Volltext: Jahrbuch (2011) (110)

71 Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 
2011jedoch 
erhebliche Mängel auf. Hinzu kommt, dass die neu erbauten Wohnungen für die meisten Tibeter viel zu teuer sind; dies führt dazu, dass viele in unzureichenden Behausungen ausserhalb der Stadt Lhasa wohnen. Weitere Modernisierungen sah das Projekt «Lhasa 2000» vor. Laut diesem Projekt sollte Lhasa eine «moderne sozialistische Stadt mit nationalen Charakteri- stika»37 
werden. Tatsächlich wurde dieses Projekt weitge- hend realisiert. Gemäss einer Untersuchung des «Centre on Housing Rights and Eviction» von 1994 bestehen in Lhasa gerade noch zwei Prozent der Wohnviertel aus traditionellen tibetischen Gebäuden. Auch wirtschaftlich sind die Tibeter im eigenen Land von den Chinesen ins Abseits gedrängt worden. Die Zahl der von Tibetern ge- führten Betriebe in und um Lhasa nimmt weiter ab.38 Wirtschaftlich beutete China Tibet weiter aus, in- dem Tausende von Bäumen abgeholzt und nach China transportiert wurden. In der Zeit zwischen dem Ein- marsch der chinesischen «Volksbefreiungsarmee» 1950 bis ins Jahr 1992 reduzierte sich die Waldfläche Tibets um 106 000 km2. Das entsprach einer zweieinhalb Mal so grossen Fläche wie die Schweiz. In der Folge begann der Boden zu erodieren. Strassen, die entlang von Steil- hängen gebaut worden waren, beschleunigten diese Erosion noch zusätzlich. Unter den Folgen der Abhol- zung hat aber nicht nur Tibet, sondern ganz Asien zu leiden: Da das Hochland Tibets der Ursprung aller be- deutenden asiatischen Flüsse ist und die nunmehr abge- holzten Böschungen die enormen Wassermengen wäh- rend der Monsunzeit nicht mehr zurückhalten können, kommt es infolge Verschlammung der Flüsse zu weitflä- chigen 
Überschwemmungen. 
Sinisierung, ideologischer Terror und chinesische Repressionen Sinisierung Der Begriff Sinisierung umschreibt nicht nur die An- siedlung von Chinesen in tibetischem Territorium und die ökologische Ausbeutung Tibets durch die Chinesen, sondern auch den Abriss tibetischer Wohnquartiere, die durch chinesische Neubauten ersetzt wurden, sowie die Ausbeutung und Verdrängung der Tibeter durch die Chinesen auf wirtschaftlicher Ebene.34 Um den Bevölkerungsdruck in China zu vermindern, hat die chinesische Regierung verschiedene Anreize geschaffen, die den Chinesen eine Ansiedlung in Tibet schmackhaft machen sollen. So erhalten sie zum Beispiel beträchtliche Verbilligungen auf wirtschaftlicher Ebene oder sie werden bei der Arbeitssuche den Tibetern vor- gezogen. Tatsache ist: Im ursprünglichen Tibet leben etwa zehn Millionen – gemäss Berichten von Exiltibe- tern sogar elf bis zwölf Millionen – Chinesen; die Zahl der Tibeter beläuft sich hingegen laut einer chinesischen Volkszählung von 1990 nur auf 4,59 Millionen. Das tibetische Agrarland ist heute vielerorts nicht mehr brauchbar. Dies kam, weil die Chinesen die Tibe- ter zwangen, Weizen35 
statt Gerste anzupflanzen und sie anwiesen – um die Ernteerträge in die Höhe zu treiben – massenweise Düngemittel und Pestizide anzuwen- den. Was die Viehweiden betrifft, so wurden auch diese übernutzt und sind deshalb weitgehend abgegrast. Weil die chinesische Propaganda verkündete, dass Tiere in Tibet «dem chinesischen Volk Platz und Nah- rung wegnehmen und deshalb keine Existenzberechti- gung haben»,36 schossen die chinesischen Besatzer diese Tiere wahllos nieder. Viele für Tibet charakteristische Tierarten sind deshalb ausgestorben oder stark dezi- miert. Auch keine Skrupel zeigte China bei der Lagerung radioaktiver Abfälle, die auf tibetischem Gebiet erfolgte. Diese Abfälle stammen teilweise aus China selbst, aber auch aus westlichen Staaten, welche dafür bezahlen, dass China ihre radioaktiven Abfälle entsorgt. Ohne Miteinbezug der tibetischen Bevölkerung erstellten die chinesischen Behörden in den Jahren 1980/1984 den «Lhasa Development Plan». Dieser sah vor, tibetische Wohnquartiere abzureissen und an deren Stelle Neubauten nach chinesischem Muster zu errich- ten. Gemäss diesem Plan errichtete Neubauten weisen 
29  Ebenda, S. 44. 30  Ebenda, S. 45. 31  Hier und im Folgenden nach Mäder (1997), S. 45–50 sowie nach Ludwig (2000), S. 73–74 und S. 76. 32  Mäder, S. 47. 33  Ebenda, S. 48. 34  Hier und im Folgenden nach Mäder (1997), S. 46, S. 50, S. 54–55, S. 60, S. 64–65, S. 142–143 sowie nach Ludwig (2000), S. 10, S. 78–80, S. 85–86 sowie S. 94–97. 35  Dieses Getreide ist jedoch viel zu anspruchsvoll für den tibeti- schen Hochlandboden. 36  Mäder (1997), S. 60. 37  Ludwig (2000), S. 97. 38  Mäder (1997), S. 65. Kapitel_3_Frick_Good.indd   7126.07.11   13:45
	        

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