Volltext: Jahrbuch (2011) (110)

41 Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 
2011 
pen wie Menschen mit bereits vorhandenen Gebrechen, Behinderungen oder chronischen Krankheiten ebenso von der Krankenversicherung ausgenommen. Wer kei- nen ausreichenden Lohn hatte, konnte ebenso wenig in den Genuss von Krankenunterstützung kommen, wie auch die meisten Familienmitglieder ohne eigenes Ein- kommen. Somit wird deutlich, «...dass für die meisten Arbeiter bei Löhnen, welche knapp um das Existenzmi- nimum pendelten, der Beitritt zu einer Krankenkasse auch bei tiefen Beitragssätzen ein grosses finanzielles Opfer bedeutete, und ausgerechnet die Ärmsten von den Kassen fernhielt.»264 Hier blieb der einzige Schutz vor der Verelendung nach wie vor die Hilfe durch das soziale Netz der Familie. Zusammenhängend mit der späten Entwicklung der Hilfsvereine blieb die Quote der Versi- cherten auch hinter jener der Schweiz zurück, wo bereits um 1880 rund 1085 Hilfskassen für die Arbeiterschaft bestanden und jeder 14. Einwohner in einem derartigen Verein versichert war.265 Für Jürg Sommer stellen die Betriebskassen mit der Selbstverwaltung durch die Arbeiterschaft die entscheidende Schwelle von der Fremd- zur Selbsthilfe dar.266 Dieser Übergang ist zumindest aufgrund einer Ein- schränkung für Liechtenstein wohl eher auf die Hilfskas- sen zu legen, denn in der Verwaltung der Fabrikkassen wurden die Arbeiter erst zu einer Zeit beteiligt, als der Kranken-Unterstützungs-Verein und die beiden Män- ner-Krankenkassen in Triesen und Vaduz sich bereits zu konstituieren begannen. Da es aber für Liechtenstein keine gesetzliche Verpflichtung zur Mitverwaltung der Fabrikkassen durch die Arbeiterschaft gab, waren man- gelnde Transparenz in der Kassenverwaltung und unzu- reichendes Mitspracherecht auch weiterhin regelmässig auftauchende Kritikpunkte in den Berichten der Gewer- beinspektoren. Neben den Kranken-Unterstützungs- Vereinen konnte sich in Liechtenstein noch eine Reihe weiterer Hilfsvereine etablieren. Die Form der gegensei- tigen Hilfe auf Vereinsbasis genoss ein hohes Ansehen, was wiederum auch als Hintergrund dafür gesehen wer- den kann, dass die Regierung 1896 der Gründung des Männerkrankenvereins der Weberei Triesen zustimmte, obwohl das Unterfangen sowohl von der Betriebsleitung als auch vom Gewerbeinspektor als unnötig und nicht zukunftsfähig bezeichnet wurde. Das Hilfsvereinswesen hatte aber bereits eine gefestigte Rolle in Liechtenstein erreicht und so konnte die Regierung auch im Hin-259 
 Die späte Parteigründung wurde durchaus als positiv betrachtet, vgl. Vogt 1987, S. 120. 260  Obwohl die Gründung eines katholischen Arbeiterverbandes scheiterte, kam es auch nicht zur befürchteten politischen Radi- kalisierung des Liechtensteinischen Arbeiterverbandes. Vgl. Qua- derer 1995, S. 8 ff. 261  Vgl. Seger 1984, S. 26, der ebenfalls die wichtige Rolle schweize- rischer Experten in der staatlichen Reorganisation Liechtensteins in den 1920er Jahren betont. 262  Siehe Sommer 1978, S. 59. 263  Vgl. Hofmeister 1981, S. 504. Allerdings ist dabei einschränkend zu vermerken, dass die undeutliche Formulierung des Gesetzes nur bedingt eine Versicherungspflicht ableiten lässt. Eine ein- deutige Pflicht zur Versicherung der Arbeitnehmer wurde erst mit dem Krankenversicherungsgesetz von 1888 eingeführt, dass eine obligatorische Krankenversicherung bei Betrieben mit min- destens 100 Beschäftigten vorsah. 264  Sommer 1978, S. 82 f. 265  Vgl. Maurer 1981, S. 763. 266  Siehe Sommer 1978, S. 59. 267  Vgl. Maurer 1981, S. 791. 268  Vgl. Merki 2007, S. 72. 269  Hoch 1991, S: 43 
ff. 
blick auf bereits erfolgreiche Hilfsvereine die Gründung gutheissen. In den 1920er Jahren, nach der erfolgreichen aussen- und innenpolitischen Reorganisation Liechtensteins, kam es zu einer ganzen Reihe von Vorstössen in der So- zialgesetzgebung. Allerdings war die Zwischenkriegszeit mit einer Vielzahl wirtschaftlicher und verschiedener politischer Krisen in Liechtenstein denkbar ungünstig für weitere Sozialversicherungsmassnahmen. Ähnliches stellt Alfred Maurer auch für die Schweiz fest.267 Erst in der Kriegskonjunktur des Zweiten Weltkriegs konnte die Industrie in Liechtenstein wieder so viele Arbeit- nehmer beschäftigen wie die Textilindustrie noch vor dem Ersten Weltkrieg.268 Der Aufschwung der privaten Versicherungen unter Einbezug schweizerischer Versi- cherungen war auch eine Chance für Liechtenstein. Wo von staatlicher Seite kaum eine Ausweitung der Kran- kenversicherung möglich war, konnten die privaten Versicherungen im neu entbrannten Konkurrenzkampf eine Vielzahl neuer Mitglieder gewinnen. Dies und weitere legislative Massnahmen in den 1930er Jahren269 sorgten trotz der Krise für eine Verbesserung des Versi- cherungsschutzes und auch für eine Ausweitung, wenn- gleich weite Teile der Bevölkerung auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nicht krankenversichert waren. Trotz vieler Gemeinsamkeiten mit der Entwick- Kapitel_1_Vogt.indd   4126.07.11   13:44
	        

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