Volltext: Jahrbuch (2011) (110)

40Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in 
Liechtenstein 
langfristig denkenden Unternehmerclans hatten dabei ein Interesse daran, sich eine Stammarbeiterschaft auf- zubauen und finanzierten durchaus auch soziale Ein- richtungen zu Gunsten der Arbeiterschaft. Allerdings soll damit kein romantisches Bild der Industrialisierung gezeichnet werden: Fabrikarbeit im 19. Jahrhundert war Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und gesundheitsschä- digend. Wenn nun die ersten Krankenkassen in Liech- tenstein noch ohne gesetzliche Verpflichtung auf Initia- tive der Unternehmer hin errichtet wurden, so geschah dies nicht allein als grosszügige Unterstützungsleistung, sondern vielmehr auch um den Betrieben eine gesunde Stammarbeiterschaft zu gewährleisten. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass während der industriellen Grün- dungszeit in Liechtenstein bereits Krankenkassen in Ös- terreich und der Schweiz existierten. In Österreich gab es darüber hinaus schon seit der Gewerbeordnung von 1859 eine Verpflichtung zur Kranken- und Unfallversi- cherung für grosse Industriebetriebe.263 Die Firma Ro- senthal verfuhr also mit der Gründung einer Kranken- kasse nicht anders, als sie es auch in Österreich gemacht hätte. Der 1894 gegründete Krankenversicherungsverein er- hielt dabei als einzige grössere liechtensteinische Versi- cherung für lange Zeit eine herausragende Stellung, die sich einerseits an den Staatssubventionen zeigt, ande- rerseits aber auch im vom Krankenversicherungsverein erfolgreich abgewehrten Versuch, den Krankenversiche- rungsverein zum Träger der staatlichen Versicherungs- pflicht umzufunktionieren. Wenn die Gründung eines zweiten «offenen» Versicherungsvereins, der Freiwilligen Krankenkasse Balzers, für den neu als Liechtensteinische Krankenkasse geführten Verein noch keine Bedrohung darstellte, so verlor er seine Vormachtstellung mit dem Eintritt der Schweizer Privatversicherer innerhalb weni- ger Jahre. Sowohl die «Christlich-soziale Kranken- und Unfallkasse der Schweiz» als auch die «Concordia» hat- ten aufgrund ihres grösseren Mitgliederstandes deutlich effektivere Organisationen im Hintergrund als die liech- tensteinischen Versicherer und konnten innerhalb von nur wenigen Jahren deren Mitgliederzahlen problemlos überflügeln. Die Offenheit der Hilfskassen war auch nur sehr ein- geschränkt gegeben. Es galten jeweils Altersbeschrän- kungen, die Kinder und alte Menschen von den Versi- cherungen ausschlossen. Ausserdem waren Risikogrup- 
dung politischer Parteien 1918259 
kam es zur Mobilisie- rung der Arbeiter, zu einzelnen Demonstrationen und erst 1920 konnte sich ein fortdauernder Arbeitnehmer- verband in Liechtenstein etablieren.260 Damit fehlte den Arbeitnehmern lange Zeit eine Lobby, die ihre Interes- sen vertreten hätte. Während in der Schweiz oder in Österreich die soziale Frage im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts heftig debattiert wurde, begann sie sich in Liechtenstein zeitgleich gerade erst zu stellen. Noch vor Abschluss des Zollvertrags 1924 wurden zwei grössere Projekte in Anlehnung an die Schweiz realisiert: die geplante erneute Revision der Gewerbe- ordnung durch Jakob Landmann und das Sozialversi- cherungsgutachten von Hermann Renfer. Die Vergabe dieser Gesetzesentwürfe beziehungsweise Gutachten an schweizerische Experten zeigt einerseits den wach- senden Einfluss der Schweiz auf die Ausgestaltung der Sozialversicherungen in Liechtenstein und andererseits eine allmählich einsetzende Professionalisierung und Verwissenschaftlichung. Dem Kleinstaat Liechtenstein fehlten die personellen Ressourcen oder das nötige Wis- sen261 und so bedurfte er für den Aufbau eines funktio- nierenden Krankenversicherungswesens stets der Unter- stützung von aussen. Dies zeigt sich an der bereits an- gesprochenen wichtigen Rolle der Gewerbeinspektoren, aber auch bei den wesentlichen Gesetzesreformen. Schon der Gesetzesentwurf für die Gewerbeordnung von 1910 basierte auf einer Planung von Gewerbeinspektor Stip- perger. Die beiden Schweizer Experten, Hermann Ren- fer als Versicherungsfachmann für die Erstellung eines Sozialversicherungsgutachtens und Julius Landmann als Basler Universitätsprofessor bei der Ausarbeitung einer neuen Gewerbeordnung, führten diese Linie fort. Zugleich mit dem damit festgestellten Mangel zeigt sich gleichermassen eine auch in der späteren Zeit immer wieder wirkungsvoll angewandte Figur, nämlich dass Liechtenstein Aufgaben, die es selbst nicht bewältigen konnte, erfolgreich auslagerte. Wie Jürg Sommer für die Industriegeschichte der Schweiz feststellt, etablierte sich ab Mitte des 19. Jahr- hunderts eine patriarchalisch denkende Fabrikantenge- neration.262 In Liechtenstein waren es eben solche Fabri- kantendynastien, zum einen die Glarner Unternehmer Enderlin, Jenny und Spoerry, zum anderen die öster- reichische Fabrikantenfamilie Rosenthal, welche mass- geblich die Industrialisierung des Landes trugen. Diese Kapitel_1_Vogt.indd   4026.07.11   13:44
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.