Volltext: Jahrbuch (2011) (110)

38Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in 
Liechtensteinwwwww 
Bau- und Sicherheitsvorschriften oder die Einhaltung von sanitären Mindeststandards. Nicht alle Beschwerden von Seiten der Inspektoren verliefen jedoch erfolgreich. Wo keine eindeutige Rechtsverletzung vorlag, drückten sich die Unternehmensleitungen des Öfteren um die Verbesserung der angekreideten Zustände oder verzö- gerten die Behebung der Probleme. Die erste Krankenversicherung Liechtensteins wurde 1870 von einem österreichischen Unternehmen gegrün- det, auch hier wurden wohl Betriebsversicherungen in Österreich als Vorbild genommen. Eine Ausnahmesitu- ation findet sich bei der erstmaligen Krankenversiche- rung für die Arbeiter der Firma Jenny, Spoerry & Cie. in der Übernahme schweizerischer Statuten. Diese wur- den ohne grosse Anpassungen genehmigt. Allerdings führten spätere Statutenänderungen zu Annäherungen, ebenso wie die 1886 auf Druck des Gewerbeinspektors durchgesetzte obligatorische Unfallversicherung. Mit der Gründung einer eigenen liechtensteinischen Betriebs- kasse für die Arbeiter der Spinnerei in Vaduz 1891 und der Übernahme der dort geltenden Bestimmungen auch für das Werk in Triesen 1893 wurde der Annäherungs- prozess fortgesetzt. In der Folge der neuen gesetzlichen Minimalstandards aufgrund der Gewerbeordnung von 1910 kam es zu einer weiteren Angleichung der Betriebs- krankenkassen, nach der sich die drei betrieblichen Kas- sen zumindest bezüglich der Krankenversicherungen nur noch in Details unterschieden. Die Arbeiterschaft in den Fabriken wiederum war zufrieden mit den Verbes- serungen, wie auch die Auflösung des Krankenversiche- rungsvereins Triesen belegt. Die Fabrikbesitzer passten sich ohne grosse Widerstände den neuen Bestimmungen an. Einerseits geschah dies wohl, weil im benachbarten Ausland ähnlich strikte Bestimmungen bereits üblich waren, andererseits wohl, weil auch die neuen Bestim- mungen problemlos zu verschmerzen blieben. Anders formuliert, selbst von Seiten der Fabriken war man sich der Unzulänglichkeiten der bestehenden Kassen be- wusst, es fehlte nur ein Anstoss zum Handeln. In der Diskussion um die Gewerbeordnung von 1910 mutet der Widerstand des Gewerbes gegen die Kran- kenversicherung etwas paradox an. Wenn der Landtag den ursprünglichen Entwurf 1909 noch einstimmig ge- nehmigt hatte, so war es wenig später gerade auch die frisch formierte parlamentarische Opposition, die ent- schieden gegen das Gesetz politisierte. Dieselbe Grup- 
Entwicklung stellt der oftmals als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zitierte Erste Weltkrieg dar. Die engen Bin- dungen an Österreich und die hohe Krisenanfälligkeit der Textilindustrie wurden mit dem Kriegsausbruch zu einem gravierenden Problem für Liechtenstein. Grosse Teile der erreichten Industrialisierung wurden wegge- fegt, ohne dass das Land selbst dabei direkt in den Krieg hineingezogen worden wäre.249 
Die Weberei Rosenthal in Vaduz ging 1918 wegen Rohstoffmangels ein,250 beide Werke der Firma Jenny, Spoerry & Cie. mussten von 1917 bis 1921 schliessen und hatten nach dem Krieg nie mehr so viele Beschäftigte wie vor Kriegsausbruch.251 Auch in politischer Hinsicht stellt der Erste Weltkrieg eine wesentliche Zäsur in der Geschichte des Landes dar, setzte doch mit dem Zusammenbruch des Habsburger- reichs eine sowohl innen- als auch aussenpolitische Neu- orientierung ein. In der Zeit von der Gründung der ersten Krankenver- sicherung 1870 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erfolgte eine weitgehende Übernahme des österreichi- schen Modells. Bereits im ersten legislativen Rahmen für die Industrialisierung, das heisst insbesondere in der Gewerbeordnung von 1865252 zeigt sich die Rezeption österreichischer Regelungen. Wenngleich die Gewer- beordnung von 1865 keine Kopie der österreichischen Gewerbeordnung von 1859 ist, so ist sie dennoch klar in Anlehnung daran sehr liberal orientiert und verfügt kaum über Regelungen zum Arbeiterschutz. Der Ar- beitsvertrag wird einzig als Sache zwischen Arbeitgeber und -nehmer betrachtet, was den Arbeitnehmer weitest- gehend schutzlos dastehen liess. Als erste wirkungsvolle Massnahme zum Arbeiterschutz von staatlicher Seite kann man durchaus die Einbeziehung der österreichi- schen Gewerbeinspektoren 1886 betrachten. Es war der jeweils amtierende Gewerbeinspektor, der den Staat bezüglich der Genehmigung der Statuten von Betriebs- kassen oder Hilfsvereinen beriet und diese auch eigen- händig so abänderte, dass sie den geltenden Regelungen entsprachen.253 Die Gewerbeinspektoren konnten er- staunliche Verbesserungen in den Betriebskrankenkas- sen durchsetzen, wenn man bedenkt, dass sie nur selten, das heisst zur jährlichen Kontrolle und in Einzelfällen zu Besprechungen mit der Regierung im Land waren. Aus- serdem betraf ihr Wirken auch weitere Bereiche des Ar- beiterschutzes wie die Einhaltung der Gewerbeordnung im Allgemeinen, Alters- und Arbeitszeitbestimmungen, Kapitel_1_Vogt.indd   3826.07.11   13:44
	        

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