Volltext: Jahrbuch (2011) (110)

30Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in 
Liechtenstein 
den des Landtags fasst Albert Schädler die Probleme mit Artikel § 71 der Gewerbeordnung wie folgt 
zusammen: «An sich wäre nun kein Grund vorhanden, die im § 71 ge- machten Bestimmungen zu ändern, aber die Schwierigkeiten, die gewerblichen Arbeiter in eine Krankenkasse unterzubrin- gen, erfordern vorläufig gewisse Einschränkungen. Alle bishe- rigen Unterhandlungen mit dem liechtensteinischen allgemei- nen Kranken-Unterstützungs-Verein führten zu keinem Ziele. Es empfiehlt sich, unter diesen Umständen die massgebenden Bestimmungen des § 71 (neu § 70) über die Mindestleistun- gen u.s.w. auf die Fabrikskrankenkassen einzuschränken, und der fürstl. Regierung anheimzustellen für die anderen in Ge- werbebetrieben beschäftigten Hilfsarbeiter, soweit sie allen- falls keine Aufnahme in dem liechtensteinischen allgemeinen Krankenunterstützungsverein finden sollten, nähere Bestim- mungen zu treffen.»192 Es war klar, dass es sich nicht bloss um eine «vorläu- fige» Einschränkung handeln würde, zumal sich Liech- tenstein aufgrund seiner engen Bindung an Österreich in einer aussenpolitisch und wirtschaftlich zunehmend schwierigen Lage befand. Für ein längeres Ringen um die Durchsetzung eines Krankenversicherungsobligato- riums für alle Arbeitnehmer blieb in diesem Klima kein Raum. Damit wurde der Kommissionsentwurf zur Abän- derung der Gewerbeordnung von 1910 nach der zweiten Lesung des Gesetzes am 27. November 1915 vom Land- tag einstimmig genehmigt.193 Die Sanktion durch den Fürsten erfolgte noch im selben Jahr und so trat die neue Gewerbeordnung bereits am 1. Januar 1916 in Kraft.194 Der Artikel zur Krankenversicherung nach der Revi- sion der Gewerbeordnung von 1915 stellte de jure einen grossen Rückschritt dar. De facto wurden aber nur die- jenigen Abschnitte gestrichen, welche bislang noch nicht durchgesetzt werden konnten und die sich in absehbarer Zeit auch kaum hätten verwirklichen lassen. Der Staat war nicht in der Lage, das Obligatorium gegen den Wi- derstand aus dem Gewerbe zu erzwingen. Auch konnte das Obligatorium nicht durch einen Staatsbeitrag an die Krankenversicherung finanziert werden. Der neu formu- lierte Teil des Krankenversicherungsartikels 
lautete: «§ 70 1) Jeder Fabriksinhaber ist verpflichtet, sein Hilfspersonal (§ 36) gegen Krankheit zu versichern.»195 Die damit reduzierte Versicherungspflicht bezog sich im Falle der Krankenversicherungen nur noch, wie bereits 
auch, die in einer Motion von neun Landtagsabgeord- neten am 25. November 1914184 den Anstoss gaben, eine Revision der noch jungen Gewerbeordnung vorzuneh- men. In einer längeren Rede bezeichnete Wilhelm Beck185 die bestehende Gewerbeordnung als «Abklatsch der österreichischen Gewerbeordnung».186 Für die Kranken- versicherung forderte er eine staatliche Beitragspflicht. Landtagspräsident Albert Schädler187 erwiderte darauf «dass man nicht zu grosse Ansprüche an das Land ma- chen könne, sonst reiche das Budget nicht ...».188 Obwohl es in Liechtenstein zu diesem Zeitpunkt noch keine Par- teien gab, zeigt sich in den Auseinandersetzungen um die Revision der Gewerbeordnung 1914 und 1915 be- reits die Formierung der Opposition.189 Kritikpunkte wa- ren auch in der parlamentarischen Auseinandersetzung vor allem die Überreglementierung des Kleingewerbes und das nicht realisierbare Krankenversicherungsob- ligatorium. Zuerst trug sich der Landtag dennoch mit dem Gedanken, gegen den Widerstand der Regierung, die an der Gewerbeordnung festhalten wollte, nur ein- zelne Bestimmungen zu lockern.190 
Der Landtag kam in der Sitzung vom 14. Dezember 1914 dann doch zum Schluss, eine Kommission bis zur nächsten Landtagsses- sion damit zu beauftragen, die Gewerbeordnung «einer gründlichen Revision zu unterziehen und den Anforde- rungen unseres einheimischen Gewerbewesens mehr anzupassen».191 In den kurz darauf stattfindenden Kom- missionssitzungen wurden neben der Lockerung der Konzessionspflicht vor allem zwei weitere Bereiche der Gewerbeordnung von 1910 angegriffen: Einerseits war dies das fünfte Hauptstück zur Regelung bezüglich der verpflichtenden Gewerbegenossenschaften, zum ande- ren § 71 bezüglich der obligatorischen Krankenversiche- rung. Die Gewerbegenossenschaft hatte von Beginn weg mit Problemen zu kämpfen und konnte keine effektive Tätigkeit erreichen. Eine Zwangsmitgliedschaft in der Genossenschaft ging vielen Gewerbetreibenden zu weit. Damit war aber auch § 71 bezüglich der Krankenversi- cherung betroffen, da ohne funktionierende Gewerbege- nossenschaft mit einer ihr eigenen Krankenkasse das Ver- sicherungsobligatorium nur durch eine erfolgreiche Koo- peration mit dem allgemeinen Kranken-Unterstützungs- Verein möglich gewesen wäre. Allerdings war dieser nicht willens, sämtliche Arbeiternehmer jeden Alters und ohne Einschränkungen in Bezug auf deren Gesundheits- zustand aufzunehmen. Im Kommissionsbericht zuhan- Kapitel_1_Vogt.indd   3026.07.11   13:44
	        

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