Volltext: Jahrbuch (2011) (110)

24Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in 
Liechtenstein 
sam auch ein Gewerbe, angeführt von der Heimstickerei ab den 1880er Jahren, herauszubilden. Um 1860 gab es im Land rund 200 Gewerbetreibende, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs aber bei einer fast gleich bleibenden Einwohnerzahl über 700 zunehmend hauptberuflich be- wirtschaftete Gewerbebetriebe.133 Diese veränderte wirt- schaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Klein- gewerbes, welches sich neben den deutlich grösseren Textilfabriken zu einer wichtigen Arbeits- und Ver- dienstquelle für das Land zu entwickeln begann, ver- langte nach einer Modernisierung der seit 1865 beste- henden Gewerbeordnung. Kurz nach der Jahrhundert- wende wurde im Landtag erstmals der Wunsch nach ei- ner Revision der alten Gewerbeordnung laut. Der liech- tensteinische Landtag befasste sich in den Jahren 1903 und 1904 mit einer Abänderung beziehungsweise einer Ergänzung der bestehenden Gewerbeordnung. Aller- dings stand vorläufig nur die Konzessionspflicht für den Verkauf alkoholischer Getränke zur Diskussion.134 Die entsprechenden Änderungen wurden in der Sit- zung vom 5. Dezember «nach längerer Debatte» vom Landtag mit 13 von 15 Stimmen angenommen. Bereits in den Diskussionen war zum Ausdruck gekommen, dass die Gewerbeordnung noch weitergehender Neue- rungen bedürfe.135 
So meinte der damalige Landesver- weser In der Maur:136 «Die Gewerbeordnung vom Jahre 1865 enthalte übrigens auch in anderer Richtung einige Bestimmungen, welche der Revision bedürfen. Bei der geplanten Gesetzesänderung könne das Nötige in die- ser Beziehung mit vorgenommen werden.»137 Die mitt- lerweile veraltete Gewerbeordnung bedurfte für diese deutlich weiter reichenden Anpassungen aber einer Totalüberholung.138 Dies stellte auch In der Maur in einem Schreiben an den Landtag 
fest: «Ein eingehendes Studium der liechtensteinischen Gewerbe- ordnung hat mir indes gezeigt, dass ein Auslangen mit der- selben für die Zukunft nicht mehr gefunden werden kann und dass insbesondere in Bezug auf das zu fordernde Mass der Vorbildung für einzelne Gewerbe, ferner in Bezug auf soziale Fürsorge für Gewerbetreibende etwas geschehen muss.»139 Eine erste eingesetzte Kommission bestand aus drei Abgeordneten des Landtags und Kabinettsrat In der Maur. Sie sollte «zunächst ein Programm über den Umfang der betreffenden Gesetzesrevision ... entwer- fen und hiernach in fortlaufenden Beratungen das nä- here über die vorzunehmende Reform fest ... setzen».140 
Mitglied statuarisch vorgeschrieben.128 Hier finden sich Ansätze einer kirchlichen Beteiligung an der Kranken- versicherung, wenngleich der Verein keine Versicherung im eigentlichen Sinn mehr darstellt. Ein weiterer Beleg für das christliche Selbstverständnis des Vereins findet sich im ersten Jahresbericht, wo es heisst: «Je besser sich unsere Vereinseinnahmen gestalten, desto weitgehender wird das eben genannte Werk der christlichen Barmher- zigkeit ausgeübt werden können.»129 Der Verein konnte im ganzen Land verteilt bereits im ersten Jahr 578 Mit- glieder verzeichnen und wurde auch gleich nach seiner Gründung mit einem Beitrag von 400 Kronen vom Land unterstützt.130 Bei Eintritt eines Familienoberhauptes in den Verein zählte die nähere Familie als 
mitversichert.131 Die neue Gewerbeordnung von 1910, ein gescheiterter Modernisierungsversuch? Nach längerer Vorbereitungszeit wurde mit der neuen Gewerbeordnung vom 30. April 1910132 erstmals eine Regelung des Krankenversicherungsschutzes in der Pri- vatwirtschaft durchgesetzt. Dabei galt neu ein Kranken- versicherungsobligatorium für alle Arbeitnehmer. Das Gesetz geriet aber bereits kurz nach seinem Inkrafttreten von verschiedenen Seiten unter Beschuss und konnte sich in der Praxis nicht durchsetzen. Vor allem aus dem Kleingewerbe erwuchs ihm vehementer Widerstand. In der Folge wurde es schon nach wenigen Jahren einer eingehenden Revision unterzogen. In der neuen Geset- zesvorlage von 1915 waren nur noch Fabrikarbeiter der Versicherungspflicht unterstellt. Anhand dieses zumin- dest in seinem vollen Umfang gescheiterten gesetzgebe- rischen Modernisierungsversuches möchte ich beispiel- haft die Schwierigkeiten in der Durchsetzung einer stär- ker reglementierten und fortschrittlich orientierten Ge- sundheitspolitik aufzeigen. Zugleich soll die wachsende Bedeutung des Kleingewerbes und auch sein politisches Gewicht damit veranschaulicht werden. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestan- den Gewerbebetriebe in Liechtenstein mit nur weni- gen Ausnahmen ausschliesslich als Nebenverdienst zur Landwirtschaft. Wie auch in der Industrie fehlten in der Landwirtschaft aufgrund der Kleinheit des Landes und der Armut der Bevölkerung Absatzmöglichkeiten. Erst mit der aufkommenden Textilindustrie begann sich lang- Kapitel_1_Vogt.indd   2426.07.11   13:44
	        

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