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Da bis Kriegsende keine landesweiten Wahlen stattfan- den, lässt sich die Stärke der VDBL nur indirekt ermit- teln. Auf dem Höhepunkt 1940 dürfte die Bewegung rund 300 Mitglieder (etwa zehn Prozent der Stimmbe- rechtigten) umfasst haben. Hinzu kam ein Kreis von Sympathisanten. Gefährlich war die Bewegung weniger aufgrund ihrer zahlenmässigen Stärke, sondern wegen ihrer Radikalität. Die VDBL-Führung pflegte verschiedene Kontaktli- nien ins Reich, insbesondere zur «Volksdeutschen Mit- telstelle», zum «Volksbund für das Deutschtum im Aus- land» (beide in Berlin), zu SD-Funktionären in Stuttgart, zu Gestapo-Stellen in Vorarlberg und Tirol, zu Agenten der deutschen Auslandspionage. Zahlreiche VDBL- Mitglieder dienten dem Reich als Informanten, Denunzi- anten, Spione und Waffen-SS-Freiwillige. Die Bewegung verfolgte ein Doppelziel: die Einfüh- rung des Nationalsozialismus im Innern und den «An- schluss» an das Dritte Reich. Die Mehrheit der VDBL- Führung strebte nicht «nur» den Wirtschaftsanschluss – wie öffentlich gefordert und im Nachhinein behauptet – an, sondern letztlich den Totalanschluss und verhielt sich damit hochverräterisch. Das Schüren von Hass und die Einschüchterung politischer Gegner dienten der VDBL als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele. Im Juni 1940 wurde ein Bomben- anschlag auf das Haus eines prominenten FBP-Politikers verübt. Am 20. Juli 1940 erliess die Regierung ein Ver- sammlungsverbot für politische Organisationen, womit der VDBL die Bühne für Propagandaveranstaltungen entzogen war. Das zunehmend provokative Auftreten der Volksdeutschen (zum Beispiel durch das Aufma- len und Abbrennen von Hakenkreuzen oder die Schaf- fung der «Sportabteilung» SA als «Sicherheitsdienst» der Bewegung) führte ab Sommer 1940 zu gewaltsamen Zusammenstössen mit
NS-Gegnern. «Der Umbruch» – ein antisemitisches Nazi-Hetzblatt übelster Art Am 5. Oktober 1940 erschien erstmals «Der Umbruch», das «Kampfblatt der VDBL». Als Schriftleiter zeichnete bis Ende 1942 Martin Hilti. Dieser propagandistische Überraschungscoup verschärfte die innenpolitische Auseinandersetzung und führte – verstärkt durch die
ambivalente Haltung der VU – zu einer eigentlichen «Oktoberkrise». Das von blankem Hass geprägte Hetz- blatt bediente sich einer schreienden, dramatisierenden Aufmachung mit übergrossen Schlagzeilen und einer emotionalen, aufstachelnden Sprache und bekannte sich vorbehaltlos zu Deutschland und zum National- sozialismus. Das Abstossendste war die menschen- verachtende Hetze gegen die Juden mit dem Ziel eines «judenreinen» Liechtenstein. Noch im Mai 1943 for- derte der «Umbruch»
«die Ausmerzung des Judentums als Volk und Rasse», was nichts anderes war als
«ein Aufruf zur Beihilfe am Mord». Im Innern zielten die Angriffe vor allem auf die FBP und die Pfadfinder. Der Fürst hingegen – als Staatsoberhaupt Symbolfigur für die Selbständigkeit des Landes – wurde ignoriert. Geigers Urteil lässt keine Zweifel: Der «Umbruch» sei ein
«fürchterliches Hetzblatt», ein
«erschütterndes Dokument ideologischer Verranntheit, Bos- heit und Menschenverachtung». Ausgelöst durch wiederholte Angriffe auf die Schweiz wurde das Hetzblatt im Juli 1943 verboten – damit war der VDBL ihre Stimme und Bühne entzogen und das Ende der seit Frühjahr 1940 die Innenpolitik beherr- schenden «Umbruch»-Zeit in Liechtenstein eingeläutet. Mit dem Erscheinen des «Umbruch» und dem immer aggressiveren Auftreten der Volksdeutschen nahm die Gewaltbereitschaft in der politischen Auseinander- setzung zu. Zusätzlich angeheizt durch Putschgerüchte, kam es im März 1941 fast täglich zu Gewaltakten. Bei einem Tumult in Schaan am 24. März trug Mar- tin Hilti eine geladene Pistole, mit der er den Geg- nern drohte:
«Platz, oder es wird scharf geschossen!» Am 26. März erreichte die Eskalation den Höhepunkt: Der Volksdeutsche Hugo Meier gab in Mauren zwei Schüsse auf Gegner ab, ohne sie zu treffen. Hätte es Tote gegeben, wäre eine weitere Eskalation bis hin zu einem deutschen Eingreifen möglicherweise nicht mehr zu stoppen gewesen. Eine Verordnung der Regierung vom 29. März verbot politische Provokationen in der Presse und in der Öffentlichkeit. Damit war die Gewalteskalation gestoppt, wozu auch eingeleitete Gerichtsverfahren beitrugen. Noch länger wirkte die antisemitische Hetze im «Umbruch» nach, kam es doch immer wieder zu Anpöbelungen und Beschimp- fungen von Juden im Alltag, 1942 sogar zu drei Spreng- stoffanschlägen, bei denen glücklicherweise keine Men- schen Schaden erlitten. Kapitel_4_Hagmann.indd 11026.07.11 13:46