Um sich von dieser Sicht zu lösen und die Frage nach dem Ort des Kleinstaates in einer heraufkommenden Welt der nationalstaatlichen Zentralisierung in eine ungewohnte historische Perspektive zu rücken, soll hier das Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts von der frühen Neu- zeit her befragt, und nicht umgekehrt mit den Wertungen des 19. Jahr- hunderts die aus der frühen Neuzeit überkommene Komplexität der Staatsformen als Modernitätsdefizit abgeurteilt
werden. 3.DER KLEINSTAAT DES 19. JAHRHUNDERTS – KONTINUITÄTSLINIEN IN FRÜHNEUZEIT- LICHER PERSPEKTIVE Unter dem Dach des Alten Reiches mit seiner komplexen Verfassungs- ordnung hat sich eine im europäischen Vergleich ungewöhnliche Vielfalt von Herrschaftsformen gehalten. Darin eine Abnormalität zu sehen, scharf abgehoben von einem Europa, das den Weg zum Zentralstaat be- reits erfolgreich zurückgelegt hätte, ist eine Vorstellung, die das 19. Jahr- hundert entwickelt hat. Sie hat sich als Defizitgeschichte einer unvoll- ständigen Staatsbildung und verspäteten Nationswerdung fest in das Ge- schichtsbild eingenistet und ist schwer aufzubrechen. An der jüngeren Forschung zur frühen Neuzeit liegt dies sicherlich nicht. Sie hat viel- mehr ein Bild gezeichnet, das dieser Vorstellung einer Zweiteilung Europas in Räume des Zentralstaates und Räume territorialer Zersplitte- rung mit defizitärer Staatsbildung scharf widerspricht. Auch in dieses Bild sind selbstverständlich die unterschiedlichen staatlichen Entwick- lungen in Europa eingezeichnet, aber doch auf der Folie einer grundle- genden Gemeinsamkeit: das frühneuzeitliche Europa als eine Welt
der «zusammengesetzten Staaten». ZusammengesetzterStaat ist ein Quellenbegriff aus der frühen Neuzeit, der auch noch in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts anzutref- fen ist. Er steht in der Tradition der aristotelischen
respublica mixta, der Alois Riklin kürzlich ein grundlegendes Buch gewidmet hat.20Der 101
Der europäische Kleinstaat im 19. Jahrhundert 20Alois Riklin: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung. Darmstadt 2006, S. 185 ff.; vgl. S. 354–356 zum systematischen Ort des Kleinstaates in der Mischver- fassung.