Volltext: Kleinstaaten in Europa

schluss an die zentralstaatliche Modernität im Westen, Norden und Tei- len des Südens Europas verpasst habe. In solchen Wertungen überlebt das Mysterium der Grösse, unter dessen Diktat Jacob Burckhardt das 19. Jahrhundert sieht, ungebrochen. In diesem auf machtvolle Grösse gestimmten Geschichtsbild sind die Mediatisierungen und Säkularisierungen zu Beginn des 19. Jahrhun- derts und schliesslich die staatlich-territoriale Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress nur Abschlagszahlungen auf dem Weg zum mo- dernen Europa der grossen Nationalstaaten. Die chaotische Vielfalt klei- ner und kleinster Territorien, das den mitteleuropäischen Raum füllt und sich bis nach Italien erstreckt, erfährt nun, so dieses Geschichtsbild, ei- nen territorialen Modernisierungsschub, doch er geht nicht weit genug. Vollendet werde dieser erste Akt in der Schaffung zeitgemässer Staats- grössen durch die Entstehung zunächst des italienischen und dann des deutschen Nationalstaates. Was Werner Kaegi und seine Mitstreiter zur Anerkennung der ge- schichtsverbürgten Kulturleistung des Kleinstaates als eine zweiphasige Folge von Katastrophen begreifen, bedeutet für die Verehrer staatlicher Grösse den entscheidenden Doppelschritt in die Modernität. Das Ge- schichtsbild der letzteren überwiegt bis heute, zumindest ausserhalb der Kleinstaaten.18Es ist ein Geschichtsbild, das die Entwicklungen im 19. Jahrhundert aus einer auf Macht und Grösse gestimmten national- staatlichen Wertungsperspektive beurteilt, die dieses Säkulum hervorge- bracht und an das 20. Jahrhundert weitergegeben hat. Klein zu sein – ein kleiner Staat, eine auf zahlreiche Staaten aufgeteilte Nation – galt dem 19. Jahrhundert als lebensschwach. «Es gräbt, bohrt, sticht in mir», lässt Friedrich Theodor Vischer 1879 den Helden seines Romans «Auch einer» sagen, «dass unsere Geschichte Gipfel hat, die keine Gipfel für unsere Nation sind. Alte Pein, einem belächelten Volk anzugehören, wacht auf.»19 100Dieter 
Langewiesche 18Zur Geschichte nationalhistorischer Reichsverächtung in Deutschland bis in die Gegenwart und eine europäisch-weltgeschichtliche Alternativdeutung (mit der um- fangreichen Spezialliteratur): D. Langewiesche: Das Alte Reich nach seinem Ende. Die Reichsidee in der deutschen Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ver- such einer nationalgeschichtlichen Neubewertung in welthistorischer Perspektive (im Druck). 19Friedrich Theodor Vischer: Auch einer. Eine Reisebekanntschaft. Stuttgart 1908 (1. Aufl. 1879), S. 518.
	        

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