Volltext: Kleinstaaten in Europa

etwa Bundespräsident Welti seiner Rede den internationalen Liberalis- mus zu Grunde gelegt hat. Die Auffassung, dass der Kleinstaat durch die Europäische Union speziell gut geschützt werde, lässt sich leicht als ein Anwendungsfall der Theorie des internationalen Liberalismus begreifen. Die Vernunft der Menschen in Europa hat zur Schaffung der EU geführt, die als ein den Grundrechten und der friedlichen Kooperation verpflichtetes Gebilde begriffen werden kann. Heute spielen diese Werte der Grundrechte und des internationalen Friedens eine ausserordentlich grosse Rolle; in Europa könnte sich wohl kein Staat ungestraft darüber hinwegsetzen. Diese politischen Ideen haben nicht durch Waffen, wohl aber durch die Verfechter dieser Überzeugung eine grosse Macht erhalten. Nun freilich ist der internationale Liberalismus das Pendant zu einer zweiten Theorie der internationalen Beziehungen, nämlich dem sog. Realismus. Danach handelt es sich bei der Welt der internationalen Beziehungen um einen Dschungel, in dem nur der Stärkere überlebt. Als wichtigstes Mittel des Überlebens von Staaten dienen die militärische und allenfalls auch wirtschaftliche Macht. Sie allein sichern das Überle- ben verlässlich. Und dieses Überleben ist der zentrale Wert, an dem sich alles staatliche Handeln auszurichten hat. Es gibt in den internationalen Beziehungen keinen endgültigen Frieden, der durch eine internationale Organisation sichergestellt werden könnte. Die Weltgeschichte verläuft vielmehr zufällig und durchaus in einem Zickzack-Kurs. Da hilft kein Vertrauen auf die Vernunft, sondern nur auf die eigene militärische Macht27im Sinne von Eduard Müllers Überlegung, die ebenfalls ein- gangs angeführt worden ist. Fügt man das Bild Lennart Meris von den Kleinstaaten als Barometern in das gebräuchliche und verbreitete Bild der europäischen Union als dem «europäischen Haus»28ein, so ergeben sich überraschende Einsichten: Im europäischen Haus haben die Klein- 201 
Der Kleinstaat in suprastaatlichen Einigungen 27Ein hervorragender Vertreter dieser Theorie ist: Hans Joachim Morgenthau, Macht und Frieden, Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh 1963, S. 48–60. 28Das Bild des «europäischen Hauses» ist heute allgemein verbreitet. Schon in der Ideengeschichte zur europäischen Einigung wurde dieses Bild verwendet. So sprach etwa Harry Graf Kessler (1868–1937) vom «grossen Dom des neuen Europa», vgl. die interessante Textsammlung: Elisabeth Rotten, Die Einigung Europas, Sammlung von Aussprüchen und Dokumenten zur Versöhnung und Organisation Europas aus eineinhalb Jahrhunderten, Basel 1942, S. 24.
	        

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