Volltext: Liechtensteinische Wochenzeitung (1877)

weiter als ein HoffnungStraum. Nach den jetzigen Meldungen 
ist sicher anzunehmen, daß der Protokollvorfchlag Rußlands 
an der Weigerung Englands gescheitert ist. In England traut 
man den schönen russischen Worten nicht, man verlangt die 
That der Abrüstung — Rußland aber will diese Tbat nicht 
leisten und erklärt dieselbe mit seiner Ehre unvereinbar. Die 
allgemeine Situation erscheint somit augenblicklich ernster denn je. 
General Jgnatieff ist jedenfalls entmuthigt und ernüchtert 
von London nach Paris zurückgekehrt und nun von da nach 
Wien gereist, um auch dort im Vorbeigehen seine Misston zu 
versuchen. 
Da< sog. „Dreikaiserbündniß", die Konferenzen, Noten, 
Protokolle u. s. w haben sich wechselweise an der orientalischen 
Frage versucht und — noch keine Lösung erzielt Dieser gor- 
dische Knoten wird daher wohl nur mit „eisernen" Mitteln ge- 
löSt werden können, denn die „hohe Diplomatie" hat alle ihre 
Mittelchen angewendet, aber ohne einen Schritt zur wirklichen 
Lösung der Frage vorwärts gekommen zu sein. — 
Der deutsche Reichstag hat in seiner Mehrheit an- 
statt Berlin nun Leipzig als ReichSgerichtSsttz erwählt in 
Folge dessen hat sich eine nicht geringe Verstimmung der fp^ 
zifisch preußischen Gemüther entwickelt. — Der 80 Geburts 
tag des deutschen Kaisers wurde in Deutschland dieser Tage 
feierlich begangen. — 
Die Aussichten auf einen Friedensschluß zwischen der Türkei 
und Montenegro haben sich wieder bedeutend verschlimmert. 
Ueber Hayes, den nunmehrigen Präsidenten der Ver. 
Staaten Nordamerikas, bringen die Zeitungen folgende Perso 
nalien: Rutherford Birchard HayeS hat, gleich wie Ulysses 
Grant, im Bürgerkriege für den Norden die Waffen getragen, 
freilich ohne an der Spitze eines HeereS Lorbeeren zu ernten, 
die allein ausgereicht haben, Grant'S Namen für alle Zeiten 
unsterblich zu machen. Hayeö ist im Jahre 1922 geboren. 
Mit zwanzig Jahren hatte er die juristischen Studien an der 
Howard-Universität in Cambridge bei Boston beendet und sich 
in seiner Heimath Ohio erst zu Fremont als Rechtsanwalt 
niedergelassen, war dann nach Cincinnati übergesiedelt und 
lebte dort seit 1858 als Anwalt. Der Ausbruch deS Bürger- 
kriegeS rief ihn wie Tausende von Bürgern unter die Waffen. 
Er trat in das 23. Ohioregiment, mit dem er am 27. Juli 
186 t auf dem Kriegsschauplätze eintraf. Bald war er Oberst 
und blieb, obgleich mehrmals verwundet, bis zu Ende deS Krie 
ges im Dienste. Als ihm Ende September 1864 seine Mit 
bürger in Cincinnati den Antrag machten, ..daS L«ger mit dem 
bequemeren und gefahrlosen Sitze ihres Vertreters im Kongresse 
zu vertauschen, antwortete er: „Ich habe Ihr ehrenvolles An- 
erbieten erhalten und danke Ihnen dafür; aber ich habe gegen- 
wärtig andere Pflichten zu erfüllen. Ein Mann, der jetzt die 
Armee verläßt, um sich in den Kongreß wählen zu lassen ver- 
dient, daß er skalpirt werde." Die Wähler von Cincinnati 
beriefen ihn nun erst recht in den Kongreß, in welchem er je- 
doch erst nach Beendigung deS Krieges im Jahre 1865 seinen 
Platz einnahm und bald zu allgemein anerkannter Bedeutung 
gelangte. Schon nach zwei Jahren wurde ihm der Gouverneur- 
poften von Ohio angetragen, und er behauptete denselben, un- 
geachtet der Anstrengungen der Gegenpartei, auch bei den bei- 
den nächsten Wahlen. Seine Bewerbung um die Präsident- 
schaft erfolgte auf das A»dringen seiner Freunde gegen seine 
Neigung. Den Eid als Präsident leistete er am 4. dies. 
Verschiedenes. 
* Gotthardbahn. Mit dem Januarresultat der Gott- 
hardbohrung ist etwas mehr als die Hälfte des Werkes über 
wunden, waS wenigstens den Richtstollen betrifft: von Nördlicher 
und südlicher Seite sind zusammen 762! Meter gebohrt und. 
eS bleiben noch 7299 M. Da sich 1880 im Spätjahr die 
Richtstollen begegnen sollen, so bleibt pro Monat zirka 166 M. 
zu bohren, eine Länge, die schon mehrfach überschritten wurde 
(im abgelaufenen Januar 185). Mehrmals aber blieb im 
letzten Jahre das Resultat hinter dieser Mittelsumme zurück, 
daS Leistungsmaximum von 244 Meter, das im Oktober 1875 
erzielt wurde, ist seither nicht mehr erzielt worden. Während 
früher der nördliche Stollen bedeutend im Vorfprung war, so 
hat in den letzten Monate»; der südliche Bohrer seinen Rivalen 
bedeutend überflügelt, so daß die Airoloseite (3717) nicht mehr 
weit hinter der Göschenenseite (3904) zurückbleibt. Wenn die 
Bohrer fernerhin so arbeiten, wie dieß gegenwärtig der Fall 
ist, so kann daS Zusammentreffen Mitte Mai 1880 erfslgen, 
also bedeutend vor der anberaumten Frist. 
* 
* * 
* Eisenbahn Wädensweil-E insiedeln. Der 
„St. Galler Ztg." wird gemeldet, daß bereits unterm 7. März 
der VerwaltungSrath dieses Unternehmens mit den Direktionen 
der Nordost- und der Uetlibergbahn einen Vertrag über mieth- 
weise Abtretung deS nöthigen Nollmaterials — im Ganzen 
3 Maschinen und 18 Wagen — abgeschlossen hat Der Be- 
trieb wird also vorläufig mittelst des gewöhnlichen Systems 
eröffnet; weitere Proben mit Welhli finden erst später statt. 
— An der Spitze deS Unternehmens der beiden Gemeinden 
WädenSweil und Einsiedeln steht der frühere Betriebsinspektor 
der Uttlibergbahn, Hrn. Tobler, ein im Fache sehr erfahrner 
Techniker, der mittlerweile nun Probefahrten, Einschulung deS 
Personals und überhaupt die nöthigen Einleitungen zu einem 
baldigen Betriebe arrangiren wird. Außergewöhnliches abge- 
rechnet, sott die Eröffnung Ende April, also voraussichtlich am 
1. Mai stattfinden. 
* 
* 5 
* AuS Zürich schreibt man der »Bülacher Wchztg." 
Der Eisenbahnkrach am schönen Zürichsee schlägt nament- 
lich in unserer Restvenz seine Wellen immer tiefer und weiter. 
Nicht bloß die Nordostbahn, sondern eine ganze Reihe von 
Geschäften entlassen viele ihrer Angestellten und Arbeiter. 
Familien, die bisher zu den reichen zählten, sind zum Mittel- 
stand unv noch tiefer herabgedrückt; Häuser, die noch vor 
Kurzem aus hohem Fuße lebten, schränken ihren LuxuS ein, 
entladen alle irgendwie entbehrlichen Dienstboten und richten 
sich ein, wie sie können oder müssen. Man redet von mehreren 
Dutzenden von Mägden, die in letzter Zeit ihren Abschied 
bekamen. ArbeitSgesuche in Menge, Bettelei, HauSschleicherei, 
Fallimente, die hohen Zahlensäulen der Pfandleihanstalten K. 
deuten auf Nothstände hin, die noch lange nicht ihren Abschluß 
gefunden haben, sondern wahrscheinlich erst recht die Folgen 
deS heillosen Aktienschwindels und Börsenspieles werden hervor- 
treten lassen. Diebstähle und Einbrüche sind an der Tagesordnung. 
Auch daS Polytechnikum hat einen nächtlichen Besuch durch 
daS Fenster empfangen und wurden in einem ZeichnungSsaale 
sieben Tische ihreS werthvollen Inhaltes an Reiözeugen ic. 
beraubt. 
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* * 
* In Stuttgart erdrosselte v. Mittwoch Nacht der Schweine- 
metzger Greiner an der Weißenburgstraße wegen finanziellem 
Unglück seine armen 4 Kinder mit starkem Bindfaden,' tödtete 
nachher feine der Entbindung entgegensehende Frau und erhängte 
sich dann selbst; der Bindfaden riß aber und Hausleute fan- 
den den Gatten- und Kmdermörder noch lebend am Boden 
liegen. Umsonst sucht man bis jetzt nach Gründen für die 
Erklärung der schaudervollen Metzelei. Die äußere Lage des- 
selben war durchaus nicht der Art, daß sie die düstere Aussicht 
auf eine hoffnungslose Zukunft eröffnet hätte. Die Angaben,
	        

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