Volltext: Liechtensteinische Wochenzeitung (1877)

führen und die Türkei an die Russen verrathen zu wollen. Mah 
mud Damat beschuldigte wiederum den früheren Sultan Murad 
der Konspiration, weshalb der regierende Sultan seinen Bruder 
aus dem Palais Tscheragan nach dem alten Serail überführen 
ließ. Hierbei widersetzten sich 40 Diener Murads, die dessen 
Leben für bedroht hielten. Die Diener wurden erdrosselt, obwohl 
die türkischen Blätter nur von deren Verbannung sprechen. Seit- 
dem wird Murad als Staatsgefangener in Topkapu überwacht 
uud hält man allgemein dessen Leben für gefährdet. Inzwischen 
sind auch viele Anhänger Midhat Paschas verhaftet, und wurde 
außerdem ein Vergiftungsversuch gegen Mahmud Damat gemacht, 
der jedoch durch dessen Arzt vereitelt wurde. Die Aufregung in 
Konstantinopel ist gewaltig und erhält durch das im Volke zir- 
fulirende Gerücht weitere Nahrung, der Prophet sei dem Sultan 
erschienen und habe ihm geboten, Frieden zu schließen. — Die 
türkischen Botschafter behaupten freilich, daß diese Nachrichten 
nicht wahr seien, da es sich bloß um die Palastintrignen einiger 
Diener gehandelt habe. Es bleibt die nähere Aufklärung also 
abzuwarten. Jedenfalls ist die türkische Armee besser, als die 
türkische Regierung, und wenn das Reich zu Grunde geht, so ist 
es nicht die Schuld des Volkes, sondern der Großen. 
Serbien hat neuerdings wieder zwei Millionen Francs 
von Rußtand eingestrichen, und sofort rasselt es wieder mit dem 
Säbel. Die Türkei verlangte die Zurückziehung des serbischen 
Korps von der Grenze, aber Serbien schlug das ab, da es seine 
Grenzbewohner schützen müsse, und schickte sogar Verstärkungen 
an die Grenze. Als nun die Pforte dem serbischen Gesandten 
noch fester auf den Zahn fühlte, da erklärte er, von kriegerischen 
Absichten seiner Regierung sei ihm keine Mittheilung zugegangen. 
So geht das Doppelspiel weiter, und es wird wohl dabei blei- 
ben, daß Serbien erst auf die Niederlage Osmans wartet, ehe 
es sich in den Handel einmischt. Oesterreich schickt zum Ueber- 
fluß einen kalten Wasserstrahl nach Belgrad, indem es durch 
seine Offiziösen erklären läßt, daß es eine Vergrößerung Ser 
biens durch bosnische Gebietstheile nicht leiden wolle. 
Man sprach bereits davon, daß Oesterreich gegen die Er- 
oberungen Nikita's, des Montenegriner Fürsten, in Albanien' 
Protestiren wolle. Das ist aber nicht der Fall. Diese kleinen 
Errungenschaften des rührigen Nikita lassen Oesterreich ebenso 
kalt, wie die Pforte selbst. Freilich, wenn man sich gegen einen 
Bären zu vertheidigen hat, kann man nicht auf jeden Floh Jagd 
machen. 
Die Russen brauchen Geld und wieder Geld. Die inlän- 
dische Anleihe hat nicht viel Glück gehabt; jetzt versucht man es 
mit einer ausländischen. Wer Geld zu viel hat, kann es in 
Massen los werden, denn die Anleihe belauft sich auf 307,500,000 
M. und wird zum Preise von 76 Prozent in Paris, London, 
Amsterdam und Berlin zur Zeichnung aufgelegt. 
Oesterreich Der neue Zolltarif resp. besonders die über« 
Mäßige Erhöhung der „Finanzzölle" (Kaffe, Petroleum u. s. w.) 
findet in ganz Oesterreich fast durchgängig eine sehr abschlägige 
Benrtheilung. Von allen Seiten laufen Proteste ein. Es wäre 
sehr zu wünschen, daß diese Stimmung auch im Reichstage ver- 
treten wäre. 
Verschiedenes. 
* Deutschland. Nachdem die Rinderpest in Geisenheim 
sich sprungsweise über den östlichen und mittlem Theil der Stadt 
verbreitet hatte, bereits in 15 Gehöfte eingedrungen war und 
mit Sicherheit bei der örtlichen Lage der Häuser und Ställe 
noch weitere Ausbrüche zu befürchten standen, wurde die Tödtung 
sämmtlicher in den verseuchten Quartieren befindlichen Viehstücke 
und Aufstellung eines Militärkordons angeordnet. Es sind da- 
selbst bis jetzt im Ganzen 129 Stücke Rindvieh, 37 Ziegen, 
und 2 Schafe getödtet worden. — Ebenso ist in Eibingen bei 
Rüdesheim infolge neuer Seuchenansbrüche in zwei Gehöften 
die Tödtung des gesummten Viehstandes des Orts, 75 Stück 
Rindvieh, 104 Ziegen und 2 Schafe, angeordnet worden. 
*Dasmenschliche Leben. Von 10 Menschen, die an 
einem Tage geboren werden, erlebt nur einer das 74. Jahr; 
von 13 kommt nur einer zum' 80. Jahr und von 43 wird nur 
einer 84 Jahr alt. Mit jedem Jahreszuschuß' wird diese Rech- 
nung der Lebensdauer absteigender. Einer, der 100 Jahre zäh- 
len soll, muß 3500 seiner mit ihm gleichzeitig geborenen Erden« 
bürger ins Grab sinken sehen, und wer 105 Jahre alt wurde, 
dem gingen 14,000 voraus. Von 25,000 Menschen gelangt 
nur einer zum 106. und von 50,000 zum 107. Lebensjahre: 
das 110. erreicht von einer Million Menschen nur einer. Gleich 
im ersten Lebensjahre sinken von 100,000 Kindern zwischen 
22,000 uud 23,000 ins Grab und ihnen folgen 8000 bis 
9000 im zweiten Lebensjahre nach. Dann sterben 4000 bis 
5000 im dritten und 2000 bis 3000 im vierten, ferner 1500 
bis 2000 im fünften Jahre und selbst das sechste Jahr ver- 
langt noch 1000 bis 1100 an Kinderleben. So sind von den 
100,000 Kindern bis zum sechsten Lebensjahre 40,000 vom 
Schauplatze des Lebens abgetreten, wobei die vermehrte Sterb- 
lichkeit durch Epidemien gar nicht ins Ange gefaßt ist. 
* Ein wahrhaft erschreckendes Bild über die rapide Zu- 
nähme der Verbrechen in Preußen giebt die Statistik 
der preußischen Schwurgerichte. Nach derselben sind innerhalb 
der fünf Jahre von 1871—75 gestiegen: Die Verbrechen deS 
Mordes und Mordversuchs von 92 auf 220 (144 pCt), des 
Kindsmordes von 82 -auf 150 (82 PCt.), der Körperverletzungen 
mit nachgefolgtem Tode und der schweren Körperverletzungen von 
282 auf 523 (85 PCt.), des Meineides von 591 auf 900 
(51 pCt.), die Verbrechen gegen die Sittlichkeit von 501 auf 
1013 (102! PCt.), der Urkundenfälschung von 1344 auf 2556 
(90 pCt.), der betrügerischen Bankrotte von 59 auf 228 (286 
pCt., also fast vierfach!), des Betruges von 186 auf 545 
(193 pCt.). Die Bekämpfung derjenigen Mißstände, welche zu 
solchen Erscheinungen führen, das wäre ein wahrhafter Kultur- 
kämpf. 
* Die Kriegskünstler haben eine neue Entdeckung gemacht, die 
dem Staate natürlich wieder ein hübsches Geld kosten wird. 
Bisher wendete man Panzer blos bei Schiffen an, um durch 
die dicke Metallhaut dieselben vor den Geschossen zu schützen; 
jetzt will man auch die Panzer auf dem Lande verwenden, und 
zwar zum Schutze der Kanonen und der Bedienungsmannschaften. 
Die Krnpp'sche Panzerkanone — so nennt sich die neue 
Erfindung — ist ein Geschütz mit einem eisernen Gehäuse, aus 
welchem blos das Geschützrohr hervorlugt.. Sogar diese Oeff- 
nung für den Mund des Geschützes kann noch durch eine be- 
wegliche Platte verdeckt werden, so daß also eine Verletzung des 
Geschützes und der Artilleristen unmöglich ist, so lange nicht der 
Panzer durchschlagen wird, was bei der Stärke der Panzer von 
einem halben Meter etwas schwer hält. Zugleich ist eine sinn- 
reiche Vorrichtung angebracht, um das Zurückweichen des Ge 
schützes aus der einmal genommenen Richtung zu verhindern. 
Auf der Mündung des Laufes ist nämlich eine Kugel anfge- 
schraubt, welche sich in einem Kugelgelenk der vorderen Panzer- 
platte bewegt. Dadurch wird der Rücklauf des Geschützes ge- 
hindert und es braucht nicht vor jedem Schusse neuerdings Rich- 
tung genommen zu werden, wodurch die Schnelligkeit des Feuers 
erheblich gesteigert wird. Auf dem Schießplatze zu Bredelar hat 
man in der letzten Woche Versuche mit der Panzerkanone ange- 
stellt, die sehr befriedigend ausgefallen sind, so daß die Erfin- 
dung wohl bald zur Verwerthung in der Armee gelangen wird. 
* Eine erfreulichere Erfindung, als die des eben beschriebenen 
Mordinstrumentes, ist die des Telephons oder Fernspre 
chers. Bisher konnte man mit dem telegraphischen Draht blos 
in der Ferne schreiben; jetzt hat ein Amerikaner auf Gruud der 
früheren Erfindung eines Deutschen ein Instrument angefertigt,
	        

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