Volltext: Liechtensteinische Wochenzeitung (1876)

seien gesonnen alle Sonderinteressen beifeite zu setzen und die 
Erhaltung des europäischen Friedens als leitendes Prinzip in 
"den Bordergrund zu stellen; der bessere Status quo im Orient 
fei die Grundlage der Bemühungen der Mächte. Der Mini- 
ster konstatirt, daß Oesterreich-Ungarn keine Feinde habe und 
zu allen Mächten in den besten Beziehungen stehe; daß eS 
ferner eine brave Armee besitze und als Staat mit 36 Millio 
nen Seelen, indem eS für den europäischen Frieden eintrete, 
mit Zuverficht Erfolgen entgegensehen könne. 
Türkei. Ueber den schon längst erwarteten und nun auS- 
gebrochenen Bulgaren - Aufstand schreibt ein Korrespondent 
d. A. A. Ztg. vom 9. Mai folgendes: 
Der seit langer Zeit erwartete, von vielen bezweifelte Bul« 
garen-Aufstand ist nun doch ausgebrochen und wird der tür 
kischen Regierung im Verlaufe der Zeit wohl schweren Kum- 
mer bereiten, denn allem Anschein nach droht er sich eben so 
entwickeln zu wollen wie der ebenfalls auS kleinen Ursachen 
entstandene bosnisch - herzegowinische Aufstand. Vorläufig be 
schränkt sich die Operation der Bulgaren darauf, daß sie die 
eigenen Dörfer abbrennen und sich mit Weib und Kind in die 
nahen Berge deö Balkan zurückziehen, um von dort aus ver- 
einigt die türkischen Streitkräfte anzugreifen. Das zur Zeit 
insurgirte Gebiet liegt zwischen Philippopel und Sofia, mit 
dem Zentrum in Tatar-Bazardschit« von welch letzterem Orte, 
resp. dessen nächster Umgebung, die Bewegung ausging. Gegen- 
würtig finden dorthin bedeutende Truppentransporte statt, 
welche alle auf den Eisenbahnen befördert werden. Die nach 
Bulgarien dirigirten Truppen und RedifS (Landwehr) kommen 
größtentheilS aus Asien, und zwar hauptsächlich aus Trape- 
zunt, Euken, Anatolien :c., theilS aber werden die durch den 
bosnischen Krieg schon sehr verminderten Garnisonen der Pro- 
vinz auf ein Minimum reduzirt und die freiwerdenden Trup- 
Pen den Bulgaren entgegengeführt. Die schlimmste Sorte, 
Welche bei dem herrschenden Truppenmangel schon aufgeboten 
wird, sind die Bafchi-Bozuks (wörtlich „Verwirrte Köpfe"). 
Dieselben sind nichtuniformirte Freiwillige, welche von der Re- 
gierung bewaffnet werd m und deren Hauptthätigkeit im Plün- 
dern und Rauben besteht — ein Geschäft, welches sie meister- 
Haft verstehen. Bei ihrem Transport durch die Eisenbahn 
machen sie sich daS harmlose Vergnügen, wahrscheinlich der 
Uebung halber, auS den Zügen auf die größtentheilS bulgari- 
fchen Bahnarbeiter k. zu schießen, und soeben trifft die tele- 
graphische Nachricht ein, daß auS einem heut expedirten Mili- 
tärzug durch diese Spielerei eine Frau und zwei Männer ge- 
tödtet und ein Mädchen verwundet wurden. Diese Baschi- 
BozukS tragen nur dazu bei den Aufstand auch dorthin zu 
verbreiten, wo er faktisch noch nicht besteht. Bei Otlukkeni, 
der Wiege deS AufstandeS, 30 Kilometer nördlich von Tatar- 
Bazardschik, fand schon ein bedeutenderer Zusammenstoß zwi- 
schen Bulgaren und türkischen Truppen statt, der ziemlich blu 
tig gewesen sein soll. Auf welcher Seite der Erfolg zu ver- 
zeichnen ist, ist noch unbekannt. Der Oberkommandant der 
türkischen Truppen, Hafuz Pascha, schickte in Folge dieses 
Treffens natürlich sofort pompöse SiegeSbulletinS nach Kon- 
stantinopel und hieher ab. Inzwischen dauern die Kämpfe fort. 
Die Türken verfügen am Kriegsschauplatz über 8 Bataillone 
Infanterie, einige Escadronen Kavallerie und über eine reitende 
Batterie von 6 Krupp'schen Kanonen, während die Bulgaren 
in der Zahl von 8000 bis 10,000 Mann ebenfalls gut be- 
waffnet sind und durch russische und serbische Offiziere geführt 
zu fein scheinen. Die hiesige Lage wird nunmehr in der That 
eine ernste. Die ganze mohammedanische und bulgarische Be- 
völkerung ist in größter Aufregung, und wenn wir Ausländer 
auch weder von der einen noch von der andern Seite etwas 
zu befürchten haben, so genügt doch ein Mißverständniß um 
den Funken in die gefährliche Zündmasse des religiösen Fana- 
tiSmuS zu schleudern und uns in die unangenehmste Situation 
zu versetzen. Heute gelangte die Nachricht hieher: in Salo- 
nichi seien der deutsche und der französische Consul ermordet 
worden, und zwar weil sie ein Mädchen, welches von Türken 
ihren bulgarischen Eltern entführt worden war, um zur Mo- 
hammedanerin gemacht und von einem Türken geheirathet, oder 
besser, in einen Harem gesperrt zu werden, auf Intervention 
der Eltern und der christlichen Geistlichkeit durch Vorstellungen 
beim Gouverneur von diesem Loose befreiten. ES hängt dieser 
Vorfall zwar nicht mit dem Aufstande zusammen, beweist 
jedoch, daß ein aufgeregter Pöbelhaufe, wenn der bei 
Mohammedanern stark ausgeprägte religiöse Fanatismus ins 
Spiel kommt, zu jeder Schandthat bereit ist. — Vor einer 
Stunde traf die telegraphische Nachricht hier ein, daß heute 
Mittags durch bewaffnete Bulgaren die Bahnlinie zwischen 
Sarembey und Bellova, unseren beiden äußersten Stationen, 
aufgerissen wurde. Man beschränkte sich jedoch darauf drei 
Schienen zu entfernen, welcher Schaden alSbald wieder repa- 
rirt wurde. Kurz darauf verfolgten dieselben Bulgaren sechs 
Türken, und als letztere sich in das Stationsgebäude von 
Bellova flüchteten, wurde dasselbe umstellt. Die Türken wei- 
gerten sich begreiflicherweise trotz ergangener Aufforderung her- 
auszukommen, und die Bulgaren zündeten daher das Gebäude 
an. Der StationSchef flüchtete sich nach Sarembey; weitere 
Nachrichten stehen bis zur Stunde, in Folge Unterbrechung 
der Telegraphenlinie, noch auS. Welchen Verlauf der Auf- 
stand nehmen wird, muß die Zeit lehren; vielleicht führt er 
zum Ende der türkischen Herrschaft in Europa und fällt daS 
morsche Reich in sich selbst zusammen. Ueber die weiteren Er- 
eignisse werde ich Ihnen später berichten. 
Die Pariser „Defense" bringt folgende tebegraphische Be- 
schreibung beS Leichenbegängnisses der beiden Consuln in Sa- 
lonichi: 
„Gestern um 8 Uhr Morgens nahmen auf ein von dem 
französischen Geschwader gegebenes Signal alle in den Gewäs- 
fern von Salonichi weilenden fremden Kriegsschiffe so nahe am 
Landungsplatz als möglich in Schlachtordnung Stellung. Einige 
Minuten darauf führten alle ihre Schaluppen Truppen-Abthei- 
lungen ans Land. Schon bei Anbruch des Tages hatte die 
türkische Garnison von Salonichi die volkreichen Quartiere, 
sowie die drei Hauptstraßen, durch welche sich der Zug bewe- 
gen sollte, besetzt und der türkische Kommissär Vahan Effendi 
hatte mit seiner Person für die Ordnung eingestanden. Um 
10 Uhr lösten die Kriegsschiffe, nachdem sie ihre Flaggen und 
Mäste zum Zeichen der Trauer eingezogen, je fünf Kanonen- 
schüsse. Die fremden Truppenkräfte, nahezu 2000 Mann, ver- 
theilten sich in starken Pelotons vom Quai bis zu den Eon- 
sulaten und besetzten auch noch verschiedene andere strategische 
Punkte der Stadt; sie trugen geladene Gewehre und ihre Sä- 
bel an der Seite. Um 10^ Uhr wurden die Leichen abgeholt 
und die Festung begann 101 Kanonenschüsse zu lösen, welche 
die Mächte gefordert hatten. Dem Sarg deS französischen Kon 
suls zog die Musik des Admiralsschiffes mit in Flor gehüllter 
Standarte voran; ihm folgten das ConfulatSkorhS, die Offi- 
ziere der Geschwader in Parade-Uniform und die türkischen 
bürgerlichen und militärischen Behörden ebenfalls in großem 
Costüm. Die fremden Marine-Soldaten bildeten Spalier. Der 
Palast des Gouverneurs hatte seine Flagge eingezogen. Ueber 
dem Thore der Moschee wehte ein großes schwarzes Tuch. 
Sämmtliche Eonsulate hatten chre Flaggen aufgepflanzt. Dem 
ganzen Zug voran schritt ein türkisches Bataillon mit Musik 
und Trauerfahne; drei Pelotons Marine-Soldaten schloffen 
den Zug. Sämmtliche Kriegsschiffe hatten ihre Feuer ange- 
zündet und Befehl erhalten auf das erste Signal die höher ge- 
legenen Quartiere der Stadt zu beschießen. Um 3% Uhr er 
reichte der Zug den Landungsplatz. Die türkischen Truppen 
erwiesen den jbeiden Särgen die militärischen Ehren; dann 
löste das Geschwader, während man die Leiche des Herr«
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.