Volltext: Liechtensteinische Wochenzeitung (1876)

landS Ernst zu beweisen und Rußlands Forderungen zu mä 
ßigen. Aber man möchte bei alledem doch mit Hiob ausrufen: 
„Ihr seid allzumal leidige Tröster!" Für den Unbefangenen 
erscheint die Lage wie 1853, wo Clarendon sie sehr richtig zeich- 
nett mit den Worten: „Wir treiben in den Krieg!" 
Nachdem daö rheinische Blatt zum Nachweis der wahren 
Absichten Rußlands noch auf die unumwundenen, oft mehr als 
anmaßenden Stimmen der russischen Presse hingewiesen, heißt 
eS weiter: 
„Die Russen haben zu oft ihre Krallen herauSgestreckt, als 
daß sie unS täuschen könnten wenn sie zuweilen ein Sammet- 
pfötchen machen. Sie wissen waS sie wollen, und wir wissen 
es auch. Und dennoch thun wir nichts! Man versichert unS: 
eS seien Gründe der tiefsten Weisheit welche Deutschland zur 
Unthätigkeit zwingen. Wir seien gegenwärtig in einer eigen- 
thumlichen Lage. Frankreich grolle unS unversöhnlich und rüste 
sich zu einem Rachekrieg, da dürften wir Rußlands unter den 
schwierigsten Umstanden erprobte Freundschaft nicht ausS Spiel 
fetzen, zumal der Türkei wegen, die uns fo wenig angehe. DaS 
mag alleS sein. Wir verkennen daS Gewicht dieser Erwägungen 
nicht; aber wir fürchten daß auf diese Weise der Abgeordnete 
Jörg Recht behalten könnte, der immer behauptet: durch den 
letzten Krieg sei nicht Deutschland, sondern Rußland allmächtig 
geworden. Als wir uns 1813 bis 1815 der Franzosen mit 
Hilfe Rußlands erwehrt hatten, war für die Befreiung Deutsch« 
lands auf unfern Schlachtfeldern auch russisches Blut ström- 
weise vergossen. Wir waren gewiß Rußland zur Dankbarkeit 
verpflichtet; indessen der Dank ist unS theuer zu stehen ge 
kommen. Ein Menschenalter hindurch schien der rassische Zar 
der Oberherr der deutschen Fürsten zu sein. Während der letz- 
ten Kriege hat Rußland unS ebenfalls verpflichtet, aber ohne 
Opfer seinerseits, bloß durch eine wohlwollende Neutralitat. 
Wir wollen diese Verpflichtung gern anerkennen; jedoch scheint 
eS unS daß wir unsern Dank am besten abtragen können wenn 
wir Rußland auf schonende Weise von einem ungerechten und 
gefährlichen Kriege zurückhalten. Ein einseitiges Vorgehen 
Deutschlands gegen Rußland wird niemand erwarten; aber 
sollte eS unmöglich sein daS oft genannte europäische Konzert 
herzustellen, in welchem Frankreich ebensowohl mitspielte wie 
die übrigen Mächte? Frankreichs Interessen werden mehr be- 
droht alS die unsrigen wenn Rußland sich auf der Balkan- 
Halbinsel festsetzt und daS Mittelmeer beschreitet. Auch die 
Schutzherrlichkeit über die Christen in der Türkei, die Rußland 
wieder in Anspruch nimmt, als ob eS weder einen Krimkrieg 
noch emen Pariser Frieden gegeben hätte, vertragt sich nicht 
mit Frankreichs überlieferten Ansprüchen. Wir sehen keinen an- 
dem Weg zum Frieden, alS wenn Europa sich einigt; denn 
wenn eS fo unentschlossen und uneinig bleibt '.vie bisher, so 
hat jener Diplomat Recht der da sagte: „ES gibt kein Europa 
mehr!" und Rußland — kann waS es will!" 
England. Wie der Telegraph meldet, fährt die englische 
Regierung fort sich im großen Maßstab zu rüsten. In Wool- 
wicb ist die Thätigkeit vervierfacht worden. Eben werden 21 Bs- 
taillone Infanterie, 7 Regimenter Reiterei und 0 Batterien zu 
einer ersten Sendung nach dem Orient designirl, wenn diese 
Maßregel nothwendig werden sollte. — Disraeli ist plötzlich 
von seinem Wohnsitz zu Jgestre Hall von seinen Collegen nach 
London berufen worden. — Zur See ist England gerüstet wie 
eS dieß noch niemals früher gewesen. 
Ueber die Frage wie viele Rüsten eigentlich nach Serbien 
gegangen sind, ist hin und her geredet worden. Die „Pall 
Mall Gazette" bringt nun einen aus Konstantinopel vom 7. 
Nov. datirten Brief, in dem eS heißt: „ Die L^ute daheim ha- 
den sich kürzlich erzählen lassen, daß in Serbien nur einige 
10,000 Russen seien. Dieß iß nicht wahr Möglicherweise 
sind nur i 0,000 Mann durch Belgrad gekommen, aber die 
rumänischen Eisenbahnen hatten bis zum Datum meiner letzten 
Erkundigung 27.000 befördert mit allen dazu gehörigen Öffl> 
zieren vom 3. Linienregiment, das sich im Ural rekrutirt. Die 
große Masse dieser Eindringlinge — nicht alle Soldaten, denn 
sie schließen Apotheker und Aerzte und Ritter des Rothen Kreu 
zes von allen Graden ein — ist nach Turn-Severin gegangen, 
und dann dort über die Donau nach Kladowa, so daß sie von 
den „S^ezial - Correspondenten" Ihrer Morgenzeitlmgen nicht 
haben beobachtet werden können." 
Rußland. Während Rußland durch seine Organe in 
der europäischen Presse die religiöse Bedrückung der Christen 
auf der BalkaN'Halbmsel als den Hauptgrund seines Vorgehens 
gegen die Türkei darstellen laßt, setzt eS in seinem eigenen Ge 
biete gegen christliche Bevölkerungen sein orthodoxes System 
unbeirrt fort. Der „Schleichen Zeitung" wird aus War- 
schau geschrieben: „Da unter den zur russische» Kirche über^ 
getretenen Unirten mehrfach das Verlangen zu Tage tritt ihre 
Kinder nach dem römisch-katholischen RituS zu taufen, um auf 
diele Weise den Uebertritt für ihre NachfgHmenschaft rückgan- 
gig zu machen, soll für diese Fälle MMuKAchmSgericht zur 
Aburtheilung errichtet werden Nach /WMrÄÄO des Straf- 
gesetzbuches droht den Betroffenen einT WMWWstrafe von 9 
bis 16 Monaten, welche Strafe aber außerhalb der 
regelmäßigen Gerichtsverfassung^bedeutend verschärft werden 
wird. Noch vor kurzem verlautete, daß die betreffenden Fälle 
vor dem hiesigen Criminalgericht entschieden werden sollten; man 
darf also wohl annehmen, daß die Häufigkeit solcher Uebertre- 
tungen in letzter Zeit die Veranlassung zur Einsetzung eineS 
Ausnahmsgerichts gegeben habe." Aus welche Weise in den 
letzten Zahren der Rest der unirten Bevölkerung Polens — 
eine Viertelmillion Seelen — zur russischen Kirche übergetreten, 
ist noch in frischer Erinnerung. Die „Freiwilligkeit" jenes 
Uebertritts erfährt durch vorstehende Nachricht eine neue Be- 
leuchtung, doch ist nicht zu fürchten daß solche Thatsachen die 
Berechtigung Rußlands vermindern werden für christliche Frei- 
heit — in fremden Staaten einzutreten. 
Aus St Petersburg wird der „Polit. Corr." unter dem 
13 Nov. geschrieben: 
„Heute um 11 Uhr Vorm. trafen der Kaiser, vie Kaiserin, daS 
Großfürsten-Thronfolgerpaar und dessen Kinder sowie die ganze 
Suite in Zurskojezelo ein. Der kaiserlichen Familie fuhren die 
hier anwesenden Großfürsten entgegen, lind an dem festlich 
geschmückten Bahnhofe hatte sich ein zahlreiches, dem Kaiser 
lebhast zujauchzendes Publikum eingefunden das nur mit Mühe 
daran abgehalten werden konnte die Pferde des kaiserlichen 
Schlittens auszuspannen und den Monarchen selbst ins kaiser 
liche Schloß zu bringen. Der gleichzeitig angelangte Kriegs- 
minister Miljutin hat sofort seinen Dienst in St. Petersburg 
angetreten, und fand bereits heute Nachmittags im Gebäude 
deö Kriegsministeriums eine Berathung aller Truppenkomman- 
direnden über die ferneren zur Erleichterung der Armeemobi- 
lisirung erforderlichen Maßnahmen statt. — Heut AbendS 
wurde eine außerordentliche Sitzung der Duma von St. PeterS- 
bürg abgehalten, in der unter allgemeiner Begeisterung be- 
schlössen wurde eine Adresse an den Kaiser zu richten, worin 
im Anschluß an die erhabenen zu Moskau gesprochenen Worte 
deS mächtigen Herrschers, die dankbarste Hingebung an den 
Kaiser, sowie die vollste Opserbereitschaft der Stadt und deS 
Landes für eine aktive Verfechtung der Interessen der Muts- 
und glaubensverwandten Christen der Türkei ausgesprochen 
wird. — Rasch hatte sich die Nachricht von diesem Duma- 
Beschluß in der Stadt verbreitet, und eine unzählige Volks- 
menge belagerte das Duma-Gebäude, um in enthusiastischer 
Weise ihre Übereinstimmung mit diesem Beschluß kundzugeben. 
Die hiesige Bezirks! andschast beabsichtigt bei der Gouvernements- 
landschaft zu petitioniren daß, für den Fall als die Ehre Ruß- 
lands und die Politik der russischen Regierung es erheischen 
würden in thatkrästiger Weise einzutreten, eine Steuer von 1
	        

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