Volltext: Liechtensteinische Wochenzeitung (1876)

P äischen Eroßstaaten zusammengetreten wäre um die Verhält- 
niffe der RajaS in Bosnien und Bulgarien zu ordnen, und 
durch eine unausgesetzte strenge Eontrolle die Ungerechtigkeiten 
und Härten der türtischen Ober- und Unterbeamten aller Grade 
jgegen die Nichtmohammedaner beständig zu verhindern; aber 
diese offenbare Ungerechtigkeit, dieser Hohn gegen alles Gesetz 
und Recht, welche Rußland jetzt in frechem Uebermuth gegen 
die Türkei, die eS auch nicht im mindesten beleidigt, ja selbst 
gekränkt hat, täglich ausübt, empört mein Gerechtigkeitsgefühl 
und erregt meinen Unwillen im höchsten Grad, und ich glaube, 
gleiches Gefühl muß bei jedem ehrenhasten Mann aufsteigen 
der kein Russe oder sonst ein earagirter Slavenfreund ist. DaS 
Verfahren nicht allein fort und fort Waffensendungen zu lei- 
sten, sondern seine aktiven Offiziere und Unteroffiziere in voller 
Uniform gegen die Truppen' eines Staates kämpfen zu las- 
sen mit dem man noch offiziell in Frieden und Freundschaft 
lebt, und mit dem noch gegenseitig Gesandtschaften bestehen, 
kann und wird nur die schlimmsten Folgen haben, und daS 
hiedurch gegebene üble Beispiel dürft- in Zukunft jedes Völ- 
terrecht aufheben und alle zivilistrte Kriegführung zweifelhaft 
machen Ich habe selbst mit gefangenen und verwundeten 
Offizieren hierüber gesprochen, sie räumten din Richtigkeit mei 
ner Behauptung ein, bedauerten überhaupt jetzt in serbische 
Dienste getreten zu sein, sagte» mir aber: man habe von hoch- 
gestellten einflußreichen Personen (ein ehrgeiziger russischer Groß- 
fürst, der zu Hause stch in einer untergeordneten Stellung lanq- 
weilt und gern König aller Südslaven werden möchte, wird 
mir von verschiedenen Seiten als Haupt der jetzigen russtschen 
Kriegspartei genannt) eS so dringend gewünscht, daß sie jetzt 
die serbischen Milizen zum Kampf gegen die Türken führen 
sollten , daß ste diesem Ansinnen nothgedrungen Folge leisten 
mußten., da sonst ihre ganze fernere militärische Laufbahn in 
Zweifel gestellt sei und sie auf weiteres Avancement kauny hät 
ten rechnen können. Und gleich ungerecht wie mit dieser Sen- 
bung vieler Hunderte von russischen Offizieren für die serbischen 
Milizen, verfährt man jetzt in der Erzählung und AuS- 
schmückung aller möglichen Grausamkeiten, welche die Türken 
fort und fort, nicht allein in Bulgarien, sondern auch überall, 
gegen die RajaS verübt haben sollen. Sollen doch leider diese 
Schaudergeschichten auch selbst in England nur zu viel Glau- 
ben bereits gefunden haben, und von den Whigs zu Partei« 
Manövern gegen die TorieS möglichst ausgebeutet worden sein. 
Ich habe eS niemals geleugnet, daß im Frühling die Baschi- 
BozukS in Bulgarien und theilweise auch in Bosnien, als die 
Insurrektion daselbst ausgebrochen war, leider nur zu häufig 
znit roher Wildheit gehaust, manche Dorfschaften niedergebrannt 
und einige hundert oft ganz unschuldige bulgarische und boS- 
nische Bauern in ihrer ersten Wuth niedergemetzelt haben. 
Solche wilden Grausamkeiten, die entschieden harte Strafe ver- 
dienen und auch oft sehr streng bestraft worden sind (der Se- 
raSkier Abdul Kerim hat gewiß über 100 Tscherkessen, Baschi- 
BozukS, RedifS und NizamS, die bei Plünderungen oder gar 
Ermordungen von Christen ergriffen wurden, sogleich erschießen 
lassen), sind aber häufig als Wiedervergeltung für die wilden 
Thaten der bosnischen und der bulgarischen Insurgenten und 
der serbischen Raubbanden gegen die mohammedanische Bevöl- 
kerung in jenen Gegenden verübt worden. Ich selbst habe in 
Bulgarien mehr als 20 mohammedanische Ortschaften gesehen, 
welche die Serben gänzlich niedergebrannt jhatten, nachdem sie 
die Bewohner zuerst ausgeraubt und alle Männer, welche da- 
bei Widerstand zu leisten versuchten, sofort getödtet hatten. Und 
gleiches geschieht noch jetzt in Bosnien und der Herzegowina, 
und die wilden Montenegriner, deren ganze Kriegsführung 
überhaupt nur in Raubzügen besteht, hausen daselbst jetzt gegen 
die armen Mohammedaner, welche das Unglück haben in ihre 
Gewalt zu fallen, mit einer Grausamkeit wie solche von den 
wildesten Tscherkessen nicht übertroffen werden kann. Noch vor 
wenigen Tagen sah ich selbst in den Hospitälern von Podgo- 
ritza einige 40 verwundete türkische Soldaten, denen die Mon 
tenegriner die Ohren, Nasen und theilweise auch die Lippen 
abgeschnitten und dann nach solcher geschehener Verstümmelung 
fast ohne Bekleidung mit Peitschenhieben zu den türkischen Li« 
nien zurückgejagt hatten. Warum will man denn über diese 
Grausamkeiten keine EntrüstungSmeetingS in England veran 
stalten ? Man könnte dieS doch mit dem ganz gleichen Recht 
thun wie man eS schon über die türkischen Barbareien gethan 
hat. ES scheint jetzt förmlich Mode geworden zu sein alle 
erdenklichen Schandthaten und Grausamkeiten den Türken nach- 
zusagen, und wie die Penny-a-liners in London alle möglichen 
Schandthaten und Raubanfälle und ähnliche Schaudergeschich- 
ten häufig erfinden um die ihnen eingeräumten Spalten der 
Zeitungen zu füllen und sich ihren TageSsold zu verdienen, so gibt 
eS jetzt in Belgrad und Ragusa und an andern Orten eine 
Menge von Zeitungskorrespondenten, welche ihre Phantasie 
förmlich anstrengen um glle nur irgendwie denkbaren Grau- 
samkeiten und blutdürstigen Abschlachtereien als von den Tür 
ken verübt zu ersinnen und in den ihnen zuganglichen slaven- 
freundlichen Zeitungen zu verbreiten. ES soll mich gar nicht 
wundern, wenn ich nächstens lese, daß der SeraSkier Abdul 
Kerim täglich einen lebendig am Spieß gebratenen Serben als 
Hauptstück auf seine Tafel setzen lasse und alle türkischen Generale 
einen Salat der mit den abgeschnittenen Nasen, Zungen und Ohren 
der unglücklichen Gefangen verziert sei, als LieblingSspeise verzehr- 
ten. Daß von russischer Seite alle solchen frech erlogenen Erfin- 
düngen eifrig verbreitet und mit Dukaten oder der werthlosen 
Spielerei russischer Orden belohnt werden, ist selbstverständlich 
und so finden sich denn genug feile Federn, die jetzt förmlich 
einen edlen Wettstreit angefangen zu haben scheinen , sich in 
deren Erfindung zu überbieten und ihren Lesern, wenn solche 
wirklich urtheilSloS genug find solchen Unsinn zu glauben, ja 
ein rechtes Gruseln zu bereiten. Gewiß werden nächstens die 
Vorstadttheattr in London sich dieses dankbaren Stoffes bemäch- 
tigen, und dem Publikum in plastischen Darstellungen vor- 
führen wie die Türken serbische Kinder lebendig verzehren, 
serbische Mädchen schänden und die Männer köpfen, braten, 
pfählen, hängen, und was sonst noch für verschiedene TodeS- 
arten ersonnen werden können. Äm Gegentheil zu dieser frechen 
Verlogenheit über daS Niedermetzeln von Weibern, Kindern, 
wehrlosen Männern und entwaffneten Gefangenen, werden alle 
Gefangenen von den Türken möglichst human behandelt, und 
ebenso wie die eigenen Soldaten und Offiziere verpflegt. Daß 
freilich diese Verpflegung gewöhnlich äußerst knapp ausfällt, 
will ich nicht läugnen, doch liegt dieß in den Umständen und 
läßt sich selbst bei dem besten Willen nicht ändern Ich möchte 
wissen ob die Russen 1830, 1848 und 1863 mit den gefan 
genen polnischen Offizieren wohl eben so human umgegangen 
sind g!S dieß jetzt von Seiten der türkischen Generale mit den 
gefangenen russischen und serbischen Offizieren geschieht. Blei- 
gruben von NertschinSk, in denen die für ihr Vaterland käm- 
pfenden gefangenen Polen den Rest ihres Lebens mit harter 
Arbeit unter der Erde zubringen mußten, hat die Türkei bis 
jetzt noch nicht gehabt, und die Knutenstrafe für politische Ver- 
brecher niemals eingeführt. Will man aber gerecht urtheilen, 
so muß man zugeben daß der Großsultan daS Recht besitzt die 
jetzt gefangenen serbischen Offiziere mit gleicher Harte zu be- 
handeln wie dieß russischerseitS stets mit den gefangenen pol- 
nischen Offizieren bekanntlich geschehen ist. Wahrhaftig Serbien 
dessen Boden 1867, als die letzte türkische Besatzung aus Bel 
grad abzog, kaum ein Türke mehr betreten hat, und um dessen 
Verwaltung sich die türkische Regierung auch nicht im aller- 
mindesten bekümmerte, hatte lang nicht so viel Grund den 
Krieg jetzt an die hohe Pforte zu erklären als die unglücklichen 
von den Russen mit Füßen getretenen Polen dieß besaßen, da 
ste 1830 ihren Verzweiflungskampf begannen und nach Helden-
	        

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