Volltext: Liechtensteinische Wochenzeitung (1874)

Politische Rundschau. 
Deutschland. Nach dem so eben erschienenen Verzeichnis 
der Fraktionen im deutschen Reichstag stellt sich die Stärke der 
einzelnen Fraktionen folgendermaßen fest: Fraktwn der Natio- 
nalliberalen 148, Fraktion der Fortschrittspartei 47, Fraktion 
des Zentrum 91. Außerdem Hospitanten bei dieser Fraktion 
die Abgeordneten v. Adalebsen, Frhr. v Grote, Dr. Nleger. 
Fraktion der deutschen Reichspartei 29; ferner Hospitanten bei 
dieser Fraktion die Abgeordneten Graf Arnim - Boytzenburg. 
Schmidt (Würtemberp); Fraktion der Konservativen 21; Frak- 
tion der Polen 14 
In der Sitzung deS Reichstages vom 3. März hat sich 
an den Antrag Gerber, Winter und Genossen (Abgeordnete 
aus Elsaß Lothringen) wegen Aufhebung deS BelagerungSzu 
standeS in Elsaß-Lothringen eine interessante Debatte angeschlos 
sen, die wir nach einem telegraphischen AuSzuge der A A 
Ztg. wiedergeben Gerber begründet seinen Antrag Er ruft 
den Allmächtigen an, daß er seine Worte fügen möge, nicht 
um zu verletzen, sondern um schwere Klagen vorzubringen 
Der § 10 enthalte dle Hauptbestimmung deS Gesetzes; er lege 
dem Oberpräsidenten eine größere Macht bei, als irgend einem 
europäischen Monarchen innewohne. Die übernommene Be 
stimmung deS französischen Gesetzes datire aus den Stürmen 
deS Jahres 1849, sei nur für die nächste und äußerste Gefahr 
berechnet und passe nicht für die reichSländische Gesetzgebung 
Redner ergeht sich dann in Anschuldigungen der deutschen Re« 
gierung bezüglich der Maßregelung der Presse und der AuS- 
Weisung elsaß'lotbringischer Landesangehörigen, erinnert an den 
Fall Rapp, dankt für die Geduld womit er angehört werde, 
und bittet schließlich um Annahme deS Antrages. BundeSkom« 
missär Herzog erklärt: die Reichsregierung sei gegen den An- 
trag und er bitte den Reichstag ihn abzulehnen. Er legt dar, 
daß der Belagerungszustand bei Anuexion der Reichslande em 
unabweisbares Bedürfniß war Er glaubt, daß die Unsicher-, 
heit im Lande nur allmählig weichen würde Die Regierung 
habe Erhebungen über die vorhandenen Revolutionäre anstellen 
müssen, und diese haben zur Notwendigkeit geführt, jenen 8 
10 in daS Verwaltungsgesetz aufzunehmen. Die Resultate der 
Gewaltherrschaft bestanden in der Ausweisung weniger Agitatoren 
und in der Unterdrückung der gefährlichsten Blätter. Der Fall 
Rapp liege anders alS der Lorredner meine; Rapp agitirte 
um elsäßische Kinder außer Landes zu führen und zu Feinden 
Deutschlands zu machen; Rapp stand an der Spitze eines 
deutschfeindlichen Vereins Von allen Leidenschaften sei die An« 
regung religiösen Hasses die furchtbarste, daher sei, um einen 
Hauptagitator nach dieser Richtung unschädlich zu machen, Rapp 
ausgewiesen worden; nur die gefährlichsten Blätter seien untere 
drückt worden Zweihundert französische Blätter seien in acht- 
tausend Exemplaren im Elsaß verbreitet. Die Reichslande seien 
nach wie vor Erregungen ausgesetzt, welche von Frankreich aus 
geschürt werden. Die Antipathien gegen Deutschland seien 
in der Rede deS Abgeordneten Teutsch im Reichstage glänzend 
hervorgetreten, einer Rede, welche kein anderes Parlament mit 
gleicher Geduld angehört hätte (Sehr wahr.) Vierzehn Tage 
nach einer solchen Kundgebung könne man der Regierung nicht 
zumuthen eines jener Mittel aufzugeben, welche sie habe um 
die staatSgefährliche Bewegung zu unterdrücken. Nachdem der 
elsaß-lötbringische Abgeordnete Winterer für den Antrag ge- 
sprechen, und hervorgehoben, die katholische Kirche werde ver» 
folgt und solle vernichtet werden, beantragt von Puttkammer 
die Verweisung deS Antrages an die Kommission. Fürst Bis- 
marck ergreift das Wort, und sagt: „Ich halte angesichts meiner 
persönlichen Verantwortlichkeit mich verpstichtet meine Ansicht 
zur Sache zu äußern. Gegenüber den gehörten Klagen ge» 
reicht eS mir zum Tröste, daß diese hier, nicht in Versailles, 
vor dem Reichstag, nicht vor der französischen Nationalver- 
sammlung geäußert worden sind, wo man ihnen im umge 
kehrten Falle schwerlich die Redefreiheit, wie hier gegönnt hätte, und 
wenn dieS dennoch geschehen wäre, wie würde sie daSPublikum auf 
der Straße behandelt haben! Wir haben nicht gehofft, daß die 
Herren, welche hier heute sprachen, unsern Einrichtungen zu- 
jauchzen würden, man muß sich an fremde Einrichtungen ge- 
wöhnen. Sind sie einmal 200 Zahre wieder bei Deutschland, 
dann wird der Vergleich zu Gunsten Deutschlands ausfallen, 
als dessen StammeSgenossen Sie beute Ihre freie Behandlung 
der deutschen Sprache bekundete. Wir bedurften des Belagerungs 
zustandes in den Reichslanden. Ich habe nicht daS Recht 
schon jetzt die Machtbefugnisse deS Oberpräsidenten zu kürzen. 
In Frankreich sind 28 Departements im Belagerungszustand. 
Unstreitig würde Frankreich im Elsaß den Belagerungszustand 
sortwahren lassen, R^den, wie wir sie hier von elsäßischen Ab- 
geordneten hörten, wurden in Elsaß nicht gehalten; ob dieS 
auch ohne den Belagerungszustand der Fall gewesen wäre, 
bleibt dahin gestellt. Nachdem ich die Herren hier kennen ge- 
leint habe, würde ich meine Verantwortlichkeit schwer fchä- 
digen, wollte ich die Machtbefugnisse deS Oberpräsidenten fchmä» 
lern. Bedenken sie doch, wie wir zur Annektirung kamen! 
Wir brauchten ein Bollwerk zum Schutz des Reiches und Sie 
(die Elsäßer) sind durchaus nicht an der Vergangenheit un- 
schuldig. Sie haben Mitschuld an dem ruchloS über uns her 
eingebrochenen Kriege Sie haben damals nicht protestirt. 
Heute ist eS leicht die volle Redefreiheit dazu zu verwenden 
unsere Einrichtung zu schädigen. Der heutige Antrag steht 
Nicht außer Zusammenhang mit dem von neulich. Welchen An- 
gnssen war Bischof Raß ausgesetzt, nur weil er den Frankfurter 
Frieden anerkannte! Wenn Sie den Antrag ablehnen, so 
läge darin das Vertrauen für das Verhalten der Regierung, 
nehmen Sie ihn an, so läge darin Ihre Zustimmung für daS 
bisherige Auftreten und Verhallen der elsaß-lothnngischen Ab- 
geordneten. Im allgemeinen habe ich nichts gegen die Bera- 
thung in der Kommission; die Regierung scheut sie nicht; da- 
gegen halte^ ich eine schnelle Erledigung dadurch nicht erzielbar. 
Beweisen Sie der ReichSregierung Ihr Vertrauen durch Ableh 
nung deS Antrages." (lebhafter Beifall.) Puttkammer zieht 
den Antrag auf Kommissiousberathung zurück Wrndthorst 
(Meppen) nimmt für, Puttkammer gegen den Antrag daS 
Wort, worauf die erste Lesung geschloffen und nach Ablehnung 
des VertagungSamragS in die zweite Lesung eingetreten wird. 
Banks beantragt die KommissionSberathung Hierauf wird ein 
Antrag auf Schluß der Debatte angenommen, ver Antrag auf 
Verweisung an eine Kommission abgelehnt und ebenso ein 
Unterantrag KrügerS (Beftoft) dahin zielend: den ReichSlan- 
den eine eigene LandeSvertretung zu gewähren. Schließlich 
wird der Antrag Gerber, Winterer und Genossen bei nament- 
licher Abstimmung mit 196 gegen 133 Stimmen verworfen. 
Für den Antrag stimmendie Elsaßer, die Polen, die Sozial- 
demokraten, das Zentrum und die Fortschrittspartei, letztere 
nachvrm Banks Namens der Partei erklärt: sie müßten, ob- 
schon sie die Argumente der Antragsteller sich nicht aneigneten, 
für den Antrag stimmen, wenn die KommissionSberathung nicht 
angenommen würde. 
Oesterreich. Im Abgeordnetenhause in Wien hat die 
Debatte über die Kirchengesetze begonnen. Unter den vorge< 
merkten Rednern sind 35 gegen und 23 für den Gesetzentwurf. 
Frankreich. Einiges Aufsehen erregt ein von Thiers an 
den conservatw'republikanischen Eandidaten deS Departements 
Vienne gerichteter Bnef, den derselbe anläßlich der Wahl Ledru- 
Rollins schrieb. Derselbe lautet in der Hauptsache folgender- 
maßen: „Ich finde eS vollkommen verständig, und ich habe 
nicht notwendig, Ihnen zu sagen, daß meine Wünsche für 
den Erfolg Ihrer Candidatur sind, obgleich eine heute sehr in 
Vergessenheit gerathene, aber von Ihren Gegnern auf affectirte 
Weise in Erinnerung gebrachte Meinungsverschiedenheit unS 
ehemals trennte. Sie fürchteten damals, durch ein Votiren
	        

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