Volltext: Werke aus der Hilti art foundation

Mark Rothko (1903 Dvinsk /Litauen-1970 New York) 
32 Ohne Titel, 1956; verso sign. u. dat.: MARK ROTHKO 1956; Leinwand; 124 x 79 cm; Inv. Nr.: P22T; erworben: 2002 
Provenienz 
Privatsammlung, Schweiz (vom Künstler erworben); 
Privatsammlung 
Auf feurig roten Grund hat Rothko drei 
verschieden große, mit unscharfen Rändern 
weich aneinander stoßende Farbfelder 
gemalt — ein schwarzes, ein gelbes (das 
mehr den Charakter eines Streifens hat) und 
ein rotes, wobei sich das rote dunkler gegen 
den Grund abhebt. Das schwarze Feld ist 
über das gelbe und das rote gesetzt, denn, 
so Rothko: «Das Dunkle ist immer oben.» 
Das Dunkle, das mit dem Schweren iden- 
tisch scheint, ist der Schwerkraft enthoben 
und schwebt über dem Helleren, vermeint- 
lich Leichteren. Wie das Schwarz über dem 
Gelb und das Gelb über dem Rot schwebt, 
so schweben alle drei Farben gemeinsam 
in schöner Proportion über und vor dem 
Grund. Ihr diffuser Umriss verstärkt den Ein- 
druck des Schwebens und eines nicht sicher 
bestimmbaren Ortes zwischen Grund und 
Auge. Ihre Textur ist durchlässig wie atmen- 
der Stoff. Die Wirkung der Farben ist ein- 
dringlich und ergreifend. Es scheint, als 
verwandle sich Flamme in Glut und Glut in 
Kohle — vergleichbar Nietzsches Versen: «Ja! 
Ich weiß, woher ich stamme! / Ungesättigt 
gleich der Flamme / Glühe und verzehr 
ich mich, / Licht wird alles, was ich fasse, / 
Kohle alles, was ich lasse: / Flamme bin ich 
sicherlich!» Rothko verstand seine Bilder 
als «Dramen», ihre Formen als «Darsteller». 
Amerikanische Kunsthistoriker und 
kritiker beschrieben seine Gemälde Mitte 
der fünfziger Jahre als «heiter», worauf er, 
ohnehin in ständiger Sorge, man könne sein 
Werk als dekorativ missverstehen, mit hefti- 
gem Widerspruch reagierte: «Denjenigen, 
die meine Bilder für heiter halten, ganz egal 
ob sie es aus Freundschaft tun oder wei! 
sie das in den Bildern erkannt zu haben 
glauben, muss ich sagen, dass ich in jedem 
Zentimeter meiner Bilder die äußerste 
Gewalt eingefangen habe.» Rothko erfuhr 
Gewalt in unterschiedlicher Form: physisch 
gegen Leib und Leben gerichtet, psychisch 
gegen Kreativität und Freiheit; von außen 
kommend, aber auch von innen, aus den 
fordernden Antrieben der eigenen Seele, 
Mit Gewalt setzte Rothko sich selbst ein 
Ende durch Freitod. Den Erschütterungen 
des Lebens begegnete Rothko mit Farben, 
in sie ausschließlich brachte er seine ganze 
Welt- und Ich-Erfahrung ein. Sie sind die 
«Darsteller» seiner gemalten «Dramen». 
Doch eignet ihnen ein unbestimmter Status 
zwischen Entstehen und Vergehen, wenn 
auch, wie hier, erfasst im Moment höchster 
'ntensität und Spannung. Sie sind nicht 
greifbar, erregen nicht den Tastsinn, sondern 
allein das Auge des Betrachters, der sich in 
sie versenken, in ihnen verlieren soll. Rothko 
wünschte seine Bilder im Dämmerlicht zu 
zeigen, um so den Eindruck des Schwebens, 
des Unbestimmten und Enthobenen der 
:arben zu steigern, auszuweiten in den 
Raum, wo der Betrachter in kontemplativer 
Selbstvergessenheit verweilt. Mag auch in 
‚edem Zentimeter dieser Bilder «die äußerste 
Gewalt eingefangen» sein — sie wurde trans- 
’ormiert in einen Zustand des Erträglichen 
durch die Erscheinung des Schönen in den 
Farben. 
Rothko war, auch seiner Selbsteinschät- 
zung nach, ein apollinischer Geist. Nietzsche 
formulierte in seiner Abhandlung über die 
«Geburt der Tragödie», die tiefgreifenden 
Einfluss auf das Denken des Malers hatte: 
«Apollon zeigt uns, mit erhabenen Gebär- 
den, wie die ganze Welt der Qual nötig ist, 
damit durch sie der einzelne zur Erzeugung 
der erlösenden Vision gedrängt werde, und 
dann, ins Anschauen derselben versunken, 
ruhig auf seinem schwankenden Kahne, 
inmitten des Meeres, sitze.» Ein solcher in 
die Anschauung versunkener Kahnfahrer 
inmitten des Meeres war Rothko, ein nach 
Amerika emigrierter Russe, ein in der Dia- 
spora lebender Jude. Erst Ende der vierziger 
Jahre fand er, nach expressionistischen 
und surrealistischen Anfängen, im mittleren 
Lebensalter zu jenen unvergleichlichen 
Bildern, für die das hier gezeigte von 1956 
exemplarisch ist. Wie kein anderer hat 
Rothko sowohl körperliche als auch geistige 
Räume durch Farbe erschlossen und durch 
Farbe geschaffen. Er hat Farbe zur höchsten 
Stufe ihrer malerischen Erscheinungsform 
geführt, hat all ihre Harmonien und Disso- 
nanzen ergründet, ihr Wirken in kleinen, 
großen und übergroßen Formaten, in Serien 
und raumumgreifenden Bildgruppen. Er hat 
ihren Ort zwischen Licht und Dunkel aus- 
gelotet, bis schließlich das Dunkel, als habe 
sich still die Nacht über den Tag gesenkt, 
das stärkere Anrecht auf sie erhob. 
U.W.
	        

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