Max Ernst (1891 Brühl/Köln—-1976 Paris)
20 Le Paradis, 1927; sign. u. r.: max ernst; Leinwand; 60x92 cm; Inv. Nr.: P9T; erworben: 2000
Provenienz
Paul Gustave van Hecke, Brüssel;
Victor Servranckx, Brüssel;
Privatsammlung, Schweiz
Max Ernst gehört zu den wichtigsten Ver-
tretern der surrealistischen Malerei. Nur
wenige andere Künstler haben wie er in
experimenteller Weise die Möglichkeiten der
Malerei als Mittel zur Findung neuer, unbe-
kannter Bildformen untersucht. Dem Surrea-
lismus ging es vor allem um die Erforschung
einer Bildwelt, die den innersten Schichten
des menschlichen Empfindens entspringt.
Dafür hat Ernst zahlreiche neue Techniken
ausprobiert und systematisch entwickelt.
Berühmt geworden ist seine Erforschung de!
«Frottage», d.h. der malerischen Nutzung
des Durchreibe-Verfahrens von unter der
Leinwand liegenden Strukturen, insbeson-
dere von Holzmaserungen.
Das Bild Le Paradis stammt aus einer
Phase höchst fruchtbaren Experimentierens
Nach den Versuchen mit dem Durchreiben
von Holzmaserungen entstanden zahlreiche
Bilder, in denen Ernst zunächst Bindfäden in
Zufallskonstellationen auf eine Fläche fallen
ließ, um sie danach im «Frottage»-Verfahrer,
durchzureiben. Aus der sich daraus erge-
benden zeichnerischen Struktur entwickelte
er dann verschiedenartige Bilder. Auch
Le Paradis gehört in diese Gruppe von
Werken.
Das stark symbolische Sujet des Bildes
wird beherrscht von zwei tierischen Ge-
stalten, einer Stute und einem Hengst, die
offenbar beim Geschlechtsakt sind. Die
merkwürdig «löchrige» Gestalt der Tiere
leitet sich aus der Konstellation der Fäden
her, die der Ausgangspunkt für dieses
Gemälde war. Der über der Stute stehende
Hengst strahlt Aggression und Zärtlichkeit
zugleich aus. Auf diese Weise ist der Liebes-
akt hier ein Zeugnis für die Doppelgesichtig-
keit der Sexualität, wie sie für die Darstellung
im Surrealismus typisch ist. Die Nachbar-
schaft von Zuneigung und Aggression,
von Ekstase, Leid und Tod ist ein Topos, der
bereits aus der Mythologie der alten Grie-
chen bekannt ist und durch die Surrealisten
eine moderne Wiederbelebung erfahren hat
Dieser Nachbarschaft starker, sich teilweise
widersprechender Gefühle entspricht die
Farbgebung der Tiere, die auf starken
emotionalen Polaritäten aufbaut: Schwarz
gegenüber Rot und Gelb, hartes Weiß
gegenüber weicheren Farben wie Blau und
Ocker. Diese sinnliche Ebene des Gesche-
hens wird malerisch noch dadurch unter:
strichen, dass der heilblaue Himmel keine
Tiefenwirkung hat. Durch die Einstreuung
von Sand in die Malfarbe erhält er vielmehr
eine starke eigenkörperliche Wirkung, die irr
Gegensatz zu der üblichen Darstellung
solchen Geschehens in der Tradition der
Malerei steht. Der Himmel ist fast penetrant
diesseitig, als wolle er am Geschehen teil-
nehmen.
Teilnehmen kann dagegen nicht der
kleine weiße Vogel, der am rechten Bildrand
in einer Käfigkonstruktion gefangen ist.
Dieser Vogel ist ein Symbol für den Künstler
Max Ernst. Ernst hat seit Mitte der zwanzige'
bis in die dreißiger Jahre hinein das Motiv
des Vogels in Gefangenschaft nahezu obses-
siv verfolgt. Es ist das Sinnbild für den Künst
ler, der auf Grund seiner Außenseiterrolle ir
der Gesellschaft zwar in eine bessere Welt
schauen, jedoch nicht an dieser teilhaben
kann. Insofern ist das Bild Le Paradis als ein
Blick in eine ursprüngliche Welt zu verste-
hen, in der sich die Kräfte der Natur noch
unmittelbar, und nicht durch die Kultur
kanalisiert und kodifiziert, entfalten können
Dass sich dabei Schrecken mit Schönheit
paart, ist eine auch heute noch nicht leicht
zu akzeptierende Erkenntnis.
In jedem Fall ist es ein Blick in die Frei-
heit. Auch Andre Breton hat diese Botschafl
des Gemäldes wohl erkannt, denn er plat-
zierte es an prominenter Stelle auf Seite 1
der Zeitschrift La Revolution Surrealiste vom
1. Oktober 1927, in jener Ausgabe, die
einem Idol der Surrealisten, einem Herold
der Freiheit gewidmet war: Charlie Chaplin
F.M.