Alexander Archipenko (1887 Kiew-1964 New York)
1 Femme Assise, 1909 (Guss: ca. 1912, nur 2 Exemplare bekannt); Bronze; Höhe: 37,5 cm; Inv. Nr.: S46M; erworben: 1997
Provenienz
5. Oppenheimer, Berlin;
Neintraub Gallery, New York;
Privatsammlung (erw. 1983)
Archipenko entwarf die kleine Bronze Femme
4ssise ein Jahr nach seiner Übersiedlung
von Moskau nach Paris. In der europäischen
Kunstmetropole lernte der knapp Zwei-
undzwanzigjährige rasch jene Künstler und
Xunstkritiker kennen, die sich sowohl prak-
tisch als auch theoretisch um den Kubismus
verdient machen sollten, vor allem Delaunay,
„&ger, Gleizes, Metzinger, Le Fauconnier
sowie den Dichter Guillaume Apollinaire.
Mit Lö&ger verband ihn eine enge Freund-
schaft. Als diese Künstler ohne Teilnahme
Picassos und Braques — die eigentlichen
3egründer des Kubismus —- 1910 erstmals
m Salon des Independants ausstellten,
waren darin auch Archipenko und Raymond
Duchamp-Villon als «kubistische» Bildhauer
mit Werken vertreten, obgleich ihre Zu-
ordnung zum Kubismus mehr aus ihrer
;reundschaft zu diesem Künstlerkreis als
aus gemeinsamen stilistischen Merkmalen
‚esultierte. Tatsächlich widerstrebte Archi-
penko eine solche Etikettierung. Wohl
schätzte er die Gemälde Cezannes und
erkannte deren Bedeutung für die Entwick-
ung des Kubismus, doch sah er sich selbst
einer anderen Tradition verpflichtet. Zu
seinen frühesten «skulpturalen» Erinne-
‚ungen gehörte die Begegnung mit einem
vorchristlichen Idol aus Stein im Garten der
Jniversität von Kiew. Im Louvre interessier-
zen ihn nicht so sehr die Venus von Milo
oder die Mona Lisa, als vielmehr archaische,
byzantinische und gotische Kunstwerke.
seine Tendenz zur Vereinfachung und Geo-
netrisierung der Form, wie sie sich auch
ın Femme Assise zu erkennen gibt, sah er
bereits in der Kunst der Inka, der amerikani
schen Indianer oder schwarzafrikanischer
Stämme vorgegeben. Aus solchen Quellen
schöpfend, wollte er sich weder dem Kubis-
mus noch gar dem Futurismus zuordnen
:assen. Er empfand sich als unabhängigen
Künstler.
Mit Femme Assise schuf der junge Archi
venko seine erste Plastik von kunsthisto-
rischem Rang. Ihre reduzierte Form und
ruhige, glatte Oberfläche setzt sich deutlich
gegen die lebhaft modellierten «impressio-
nistischen» Werke Rodins (siehe Kat. Nr. 2)
oder Medardo Rossos ab. Alle körperlichen
Details, etwa Knochen und Muskeln, sind
eliminiert zugunsten eines einfachen, klaren
Erscheinungsbildes mit geschlossener Um-
risslinie. Zwar hatte Rodin als erster die
menschliche Figur ihrer Arme und Beine
«entledigt», sie als Torso gestaltet und dami'
einen neuen, für viele Künstler vorbildhafter
"ypus geschaffen. Doch im Unterschied zu
ihm entfernte Archipenko die Extremitäten
nicht erst nach Fertigstellung einer Figur,
sondern konzipierte diese bereits im Voraus
als Torso, wie es zur gleichen Zeit nur weni-
ge andere Bildhauer taten, etwa Constantin
Brancusi.
Femme Assise kommt ohne das Attribut
eines Sitzmöbels aus. Die Figur ruht auf
aäjinem unregelmäßig geformten zylind-
rischen Sockel, der anzeigt, dass sie um-
schritten und von allen Seiten betrachtet
werden will. Mit ihrem spiral- und S-förmi-
gen Schwung, den kleinen Brüsten, dem
gewölbten, deutlich überlängten Bauch und
der ausladenden Hüft- und Gesäßpartie
erinnert sie an weibliche Figuren des euro-
päischen Spätmittelalters. Die einfache, aut
das Wesentliche beschränkte Form verleiht
ihr Monumentalität — der tatsächlichen
Größe zum Trotz.
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