Max Bill (1908 Winterthur-1994 Berlin)
19 Unendliche Schleife, 1994/95; Granit; 200x180 x 200 cm; Inv. Nr.: S47M; erworben: 1998
Provenienz
akob Bill, Schweiz
Die Idee zu einer künstlerischen Form, die
später Unendliche Schleife genannt werden
sollte, geht, wie Max Bill schreibt, auf das
jahr 1935 zurück. Der Architekt Marcel
3reuer bat Bill, einen elektrisch betriebenen
«Kamin» ohne Feuer in einem Londoner
Ausstellungshaus durch eine Skulptur
zu beleben. Bill dachte an eine elementare,
schwebende Form, die sich im Kamin nur
durch Luftzug bewegen und somit das
:lackern des Feuers ersetzen sollte. Das
Resultat seines Experimentierens war eine
«unendliche Schleife», die dadurch entstand,
dass er die Enden eines Papierbandes um
180 Grad gegeneinander verdrehte und
anschließend zusammenfügte. Der Auftrag
Aurde nicht realisiert, doch die einmal
gefundene Form veranlasste Bill zur Aus-
‚ührung in verschiedenen Größen, Materia-
lien und Varianten. Anlässlich der Mailänder
Triennale im Jahre 1936 ließ Bill von Hand-
werkern erstmals eine Schleife aus Gips
anfertigen, die er von der Decke herab über
eine Säule hängte. Nur wenig später kam
es zur Ausführung einer 1,50 m hohen, auf
dem Boden liegenden Variante in Stein.
Bill war fasziniert von den Eigenschaften
der «unendlichen Schleife». Da sie nur aus
ainer Fläche besteht, sind Innen- und Außen-,
/order- und Rückseite miteinander identisch.
«Von jedem Punkt auf dieser Fläche kann
man zu jedem anderen Flächenpunkt gelan-
gen, ohne den Rand übertreten zu müssen.
"Auf ihr] sind ohne Richtungsänderung in
der Ebene endlose Wege möglich» (Dietmar
Guderian). Ihr Rand bildet eine einzige Linie,
die zu sich selbst parallel verläuft. Damit sah
Bill die euklidische Geometrie «am Ende»,
nach welcher sich Parallelen im Unendlichen
schneiden. Hier aber bleibt die Linie, die sich
parallel zu sich selbst verhält, trotz ihres
unendlichen Verlaufs unüberschnitten. Erst
später erfuhr Max Bill, dass seine «unendli-
che Schleife» durch das «Möbiusband», so
Jenannt nach dem Leipziger Mathematiker
August Ferdinand Möbius (1790-1868),
Jereits vorweggenommen war. Er hatte
diese Form also noch einmal neu erfunden
und, wie er schrieb, «aus einem mathema-
schen Problem der Topologie ein Objekt
der Kunst» geschaffen.
Bill fertigte, bevor es zu einer Ausführung
n Stein kam, kleinere Modelle aus Papier,
Drahtgeflecht oder Blech an. Nach Festle-
Jung der genauen Form und der Maßver-
rältnisse machte er eine Werkzeichnung als
Vorlage für das in Gips oder Blech erstellte
größere Modell, nach welchem schließlich
das Original in Stein entstand, den er jedoch
ıicht selbst bearbeitete. Hierzu bedurfte
as hoch spezialisierter Handwerker, die die
:orm aus einem massiven Monolith heraus
schnitten und nachfolgend polierten. Von
der Unendlichen Schleife gibt es fünf Varian-
cen, wobei die hier gezeigte die letzte und
größte ist. Sie wurde von den Steinmetzen
Paolo Grassi, Silvio Santini und Mario
Fruendi aus Torano bei Carrara in rotem
Assuan-Granit ausgeführt, den Bill, wie
überhaupt Granit, besonders schätzte. Die
Fertigstellung dieses handwerklichen Meis-
terstückes im Jahre 1995 erlebte der Künst
ler nicht mehr. Sie unterlag der Aufsicht
seines Sohnes Jakob Bill.
Mit der Unendlichen Schleife hat Max Bill
nicht nur das «Ende der euklidischen Geo-
metrie» aufgezeigt, sondern auch die Gren-
zen der traditionellen Skulptur überwunden,
bei welcher Innen und Außen strikt vonein-
ander getrennt sind. Ihre Äquivalenz, ihr
nahtloses Ineinanderfließen führt zu einer
ebenso offenen wie in sich geschlossenen
Form ohne Anfang und Ende, erzeugt Bewe-
gung und Gegenbewegung, bewirkt einen
ständigen Richtungswechsel mit dynami-
schen und retardierenden Momenten. Die
«Gleichbehandlung von Innen und Außen,
von Bewegung und Gegenbewegung legt
das Aufstellen von Analogien zu dualen
Abläufen und Zuständen des Lebens nahe,
z.B. zum männlichen und weiblichen Prinzip,
zum Einatmen und Ausatmen» (Dietmar
Suderian).
Wer die Skulptur umschreitet, wird über-
-ascht von der Vielzahl ihrer unterschied-
lichen Ansichten. Er wird feststellen, dass
sie «von allen Seiten schön» ist. Er wird
aber vielleicht auch bemerken, dass er als
Unbeteiligter vor ihr steht, da sie, endlos aus
hrer eigenen, perfekten Form schöpfend,
sich selbst genug ist.
LW.