848
849
850
851
unter der Prämisse einer (mehrheitlichen) Toleranz jenen Kom-
petenzverschiebungen gegenüber, deren Ausgleich (und Gleich-
gewicht) die liechtensteinische Verfassungsordnung in der
Vergangenheit nicht nur konstituiert, sondern auch im Zaum
gehalten hatte.
Für diesen Paradigmenwechsel bildet die Aufhebung von
Art. 112 LV i.d.F.d. Verfassung vom 5. Oktober 1921, die „aus
dem dualen System ... letztlich ein monistisches”8#8 macht
und die vom Staatsgerichtshof als eine „staats- und verfas-
sungspolitisch höchst bedenkliche Reduktion der Verfassungskon-
trolle“849 bezeichnet worden ist, nur ein Fanal. Die Tatsache,
dass ein Rühren an der Grundstruktur der liechtensteinischen
Verfassungsordnung, dem ,Dualismus' zwischen Fürst und
Volk, im Zuge der sog. Verfassungsdiskussion nicht nur óffent-
lich, sondern auch offiziell geduldet wenn nicht gar betrieben
worden ist, lässt keinen anderen Schluss zu, als dass revisions-
resistente Überzeugungen in der politischen und gesellschaft-
lichen (Mehrheits-)Wahrnehmung nicht bzw. nicht mehr zu
bestehen scheinen899 oder — sobald der Verlust eines der bei-
den Souveráne in Aussicht gestellt wird — samt und sonders
aufeegeben werden. Phünomenologisch ist die sog. Verfassungs-
diskussion ein Indiz dafür, dass ein (mehrheitliches) Bewuss-
tsein über den Bestand und Inhalt von Verfassungsschranken
in Liechtenstein fehlt, diagnostisch ist sie trotz ihrer Beispiello-
sigkeit ein Schulbeispiel für einen Substanzverlust®51, der - am
Batliner/Kley/Wille (Memorandum) S. 17.
Pkt. 2 /g) der Stellungnahme des Staatsgerichtshofes vom 14. Mai 2002 zur Verfassungsdis-
kussion, in: Aussagen und Antráge der Kommissionsminderheit der Verfassungskommission
Ill vom 30. September 2002 (Beilage) (Kursivstellung durch den Verfasser).
Eine Ausnahme bildet die Stellungnahme des Vorstandes des Arbeitskreises Demokratie und
Monarchie in den liechtensteinischen Landeszeitungen vom 26. Oktober 2002.
Wird — wie es im Zuge der sog. Verfassungsdiskussion der Fall gewesen ist — die politische
Kultur dem Verfall preisgegeben, bleibt dies auf die Wissenschaft nicht ohne Auswirkungen.
Unter den Umstànden, unter denen die sog. Verfassungsdiskussion geführt worden ist, kann
nicht erwartet werden, dass sich die Rationalität — wie sie z.B. im Diskussionsbeitrag Batliners
zum Ausdruck kommt — der Übermacht jener anachronistischen, wenn nicht gar atavistischen
Vorstellungen wird erwehren kónnen, die sich in Liechtenstein auch im 21. Jahrhundert noch
entiesseln lassen. Im Gegenteil: Der Prozess der sog. Verfassungsdiskussion rüttelt nur
schon deshalb an den Fundamenten der liechtensteinischen Verfassungsordnung, weil er
sich deren Schweigen über den Bestand und Inhalt von Verfassungsschranken zu nutze
macht. Die Wissenschaft wird damit um eine ihrer Grundlagen gebracht. Ohne dass dies in
das óffentliche, geschweige denn in das offizielle Bewusstsein zu gelangen scheint, ist der
Prozess der sog. Verfassungsdiskussion schon vor seinem Abschluss zu einem Menetekel für
jenes Verständnis geworden, das nach der Volksabstimmung vom 16. März 2003 droht: Dass
das (geschriebene oder ungeschriebene) Verfassungsrecht schrankenlos wird und zu einer
beliebigen Grösse im Machtgefüge zwischen Fürst und Volk verkommt. Mit der Aufhebung
183