oder wollten. Das Oberamt kam in vielen Bereichen gar nicht in die Situa-
tion, Befehle erteilen zu müssen, die dann mit grossem Aufwand hätten
durchgesetzt werden müssen.
Prozesse
Wenn man die Herrschaftsausübung in den Revolutionsjahren 1848/49 un-
tersucht, darf man zweifellos nicht nur nach den strukturellen Gegeben-
heiten fragen, sondern man wird auch versuchen müssen, dynamische Aspekte
einzubeziehen. Der Obrigkeitsstaat war mit dem erwachenden politischen
Selbstbewusstsein von Menschen konfrontiert, die nicht länger als Unter-
tanen, sondern als Bürger behandelt werden wollten. Welchen Einfluss hat-
ten die neuen Verhaltensweisen und die revolutionären Ideen auf das Re-
gierungssystem?
Vorerst scheint es mir wichtig festzustellen, dass die neuen Ideen und die
Ideale der Revolution nicht in Liechtenstein entstanden sind und hier auch
keine Tradition hatten. Die politischen Inhalte wurden im Rahmen der
Verfassungsdiskussionen zwar engagiert diskutiert, sie dürften für die Masse
der Bürger aber wohl noch zu abstrakt gewesen sein. Unter Freiheit wurde
vor allem die «wirtschaftlich-materielle Befreiung»* verstanden: Befreiung
von Feudalabgaben und Fronen, Überwindung der wirtschaftlichen Isola-
tion usw. Diese Forderungen wurden von Fürst Alois II. von Liechtenstein
zum grössten Teil‘ als berechtigt anerkannt und zu einem erheblichen Teil
auch zugestanden. Im Bereich der «politischen Freiheitsrechte» zeigte Fürst
Alois II. ebenfalls Verständnis: Er machte «provisorische» Zugeständnisse,
behandelte die Forderungen zumeist dilatorisch und verhinderte damit zu-
mindest, dass die Bewegung eine revolutionäre Dynamik erhielt,
Die Idee der Gleichheit fiel in Liechtenstein auf wenig fruchtbaren Boden,
da sie überkommene soziale und wirtschaftliche Privilegien in Frage stellte,
nämlich die Einbürgerungspraxis in den Gemeinden und die damit verbun-
denen wirtschaftlichen Privilegien der alteingesessenen Bürger. Der gemein-
same Besitz an Allmenden, Weiden und Wald war für die Bauern Teil der
Existenzgrundlage. Der Gleichheitsgedanke wurde auf diesem Hintergrund
als eine Bedrohung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gesehen.
Die Ungleichbehandlung der Dorfbewohner wurde als althergebracht und
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