Auslegung des Verfassungs- und Verwaltungsrechts
$ 4 Auslegung des Verfassungs- und Verwaltungsrechts
I. Gegenstand und Zweck der Auslegung
Das Ziel der Gesetzesauslegung “ist die Ermittlung des wahren Willens
des Gesetzgebers und seine vernünftige Verwirklichung nach den
Grundsätzen der Gerechtigkeit”?. Sämtliche Rechtssätze in der Verfas-
sung, den formellen Gesetzen und den Verordnungen müssen ausgelegt
werden?. Der Moment der Auslegung ist für die Verwirklichung des
Rechts von grösster Bedeutung: Die allgemeinverbindlichen Rechtssätze
werden gewissermassen in ihre individuell-konkrete Existenz als Rechts-
anwendungsakte überführt. Bei diesem Vorgang wird vom “ Ausdruck auf
das Ausgedrückte”, vom ““Rechtstext” auf das ‘Gesollte”” geschlossen‘.
Der klassische Rechtssatz setzt sich aus Tatbestand und Rechtsfolge
zusammen. Die Rechtsfolge aus einem gegebenen Sachverhalt wird
durch das Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Tatbestand und
Sachverhalt bestimmt*. In diesem Zusammenhang spricht die Lehre
vom Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung (von griechisch syllogis-
mos “Zusammenrechnen”). Er bedeutet den logischen Schluss vom
Allgemeinen, dem Gesetz, auf das Besondere der Rechtsanwendung
in Form einer Verfügung oder eines Urteils. Der Rechtsanwender
schliesst mit andern Worten von der abstrakten Norm auf den konkre-
ten Tatbestand. Die Anwendung der verwaltungsrechtlichen Rechts-
norm auf diesen konkreten Tatbestand führt zu einer individuellen Ver-
fügung, die nur für eine oder wenige Personen gilt.
Die Auslegung der Gesetze durch die Verwaltungsbehörden und Ge-
richte bildet das Recht weiter; die Gesetze werden durch die Rechtspra-
xis gewissermassen “überlagert”. Die Lehre spricht in diesem Zusam-
menhang vom “Behörden-” oder “Richterrecht” als einer Art Rechts-
quelle®. Die Rechtsfortbildung ist eine ureigene Aufgabe der Gerichte”.
ı Eine frühere Fassung dieses Kapitels habe ich unter dem Titel “Auslegung des liechten-
steinischen Verwaltungsrechts”, LJZ 1996, S. 74-83 veröffentlicht. Diese Arbeit wird in
den folgenden Anmerkungen nicht nachgewiesen.
StGH 1972/5, Urteil vom 11.12.1972, ELG 1973-78, S. 349 (351).
Vgl. Adamovich u.a., Staatsrecht, S. 31.
Antoniolli/Koja, S. 100.
Vgl. dazu unten Abschnitt IV., 5. 106 f.
Vgl. S. 75 ff.
Vgl. SEGH 1985/6, Urteil vom 9.4.1986, LES 1986, S. 144 (117); StGH 1986/5, Urteil
RI