Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK
Im Anwendungsbereich eines besonderen Grundrechts kann freilich
Art. 14 EMRK durchaus einen autonomen Charakter als eigenständige
Garantie der Rechtsgleichheit entfalten. Die Anwendung des Art. 14
EMRK setzt nämlich nicht voraus, dass das materielle Konven-
tionsrecht verletzt ist®. In diesem Zusammenhang ist gerade die Aus-
dehnung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK von grosser Be-
deutung”. Ist nämlich Art. 6 EMRK auf ein Verfahren anwendbar, so
wird damit auch Art. 14 EMRK relevant. Dies zeigte sich eindrücklich
im Verfahren Schuler-Zgraggen gegen die Schweiz’!. Das Eidgenössi-
sche Versicherungsgericht billigte den Entzug einer Invalidenversiche-
rungsrente mit der Annahme, die auf der allgemeinen Lebenserfahrung
beruhe, dass viele verheiratete Frauen anlässlich der Geburt ihres ersten
Kindes ihre Arbeitsstelle aufgeben und erst später wieder eine Erwerbs-
tätigkeit ausüben. Der Gerichtshof sah darin eine unzulässige Diskrimi-
nierung der Geschlechter”?:
“Die Förderung der Gleichheit der Geschlechter ist heute ein wichti-
ges Ziel der Mitgliedstaaten des Europarats, und sehr schwerwie-
gende Gründe müssten vorgebracht werden, wenn eine unterschied-
liche Behandlung der Geschlechter als mit der Konvention vereinbar
angesehen werden sollte. Der Gerichtshof vermag im vorliegenden
Fall keine solchen Gründe zu erkennen”.
Trotz des akzessorischen Charakters von Art. 14 EMRK bleibt somit
zu beachten, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofes für Menschenrechte immer strengere Anforderungen an Dif-
ferenzierungen stellt. Es ist durchaus möglich, dass in Einzelfällen
die Schutzintensität des Art. 14 EMRK jene von Art. 31 LV über-
trifft.
69 Vgl. Urteil Karlheinz Schmidt, EGMR/A 291-B, $ 22 = EuGRZ 1995, S. 393 = ÖJZ 1995,
5. 148.
7 Vgl. Kley, Rechtsschutz, S. 106 ff. m.H.
"' EGMR/A 263, $$ 44 ff. (Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK) und $$ 61 ff. (Verletzung
von Art. 14 EMRK) = EuGRZ 1996, 5. 604 = OJZ 1994, S. 138 = Pra 1994 Nr. 24.
EGMR/A 263, $ 67 = EuGRZ 1996, S. 607; vgl. ferner Urteil Karlheinz Schmidt,
EGMR/A 291-B, $$ 21 ff. = EuGRZ 1995, S. 393 = ÖJZ 1995, S. 148.
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