Füllung von Gesetzeslücken im Verwaltungsrecht
Viele Bereiche des sozialen Zusammenlebens des Menschen werden
nicht durch Recht, sondern nur durch sittliche Normen und Gepflo-
genheiten “geregelt” (z.B. Anstandsregeln). Diese “gesetzesfreien Ge-
biete” sollen und dürfen vom Rechtsanwender nicht mit Rechtsnormen
geordnet werden, weil der Gesetzgeber bewusst auf eine Regelung ver-
zichtet hat.
2. Unechte (rechtspolitische) Lücken
Bei der unechten Lücke gibt das Gesetz auf ein Problem eine Antwort.
Diese führt aber zu einem sachlich derart unbefriedigenden Resultat,
dass die gesetzliche Regelung gleichwohl als lückenhaft empfunden
wird!2°.
Das Gesetzmässigkeitsprinzip untersagt den rechtsanwendenden In-
stanzen die Füllung solch unechter Lücken, denn es ist Aufgabe des Ge-
setzgebers, die politischen und gesellschaftlichen Wertentscheidungen
zu fällen!?!, Gleichwohl finden sich in der Praxis Beispiele, bei denen der
Rechtsanwender ein rechtspolitisches Manko eines Gesetzes behoben
hat. So hatte das Eidgenössische Versicherungsgericht das Gesuch einer
Frau um Hinterlassenenabfindung zu beurteilen, die ihren Ehemann
getötet hatte. Das Gericht nahm eine rechtspolitische Lücke an und ver-
weigerte trotz gegebener Voraussetzungen die nachgesuchte Leistung!??.
Der Staatsgerichtshof erachtete — um ein anderes Beispiel zu nennen —
das Staatsgerichtshofgesetz insofern lückenhaft, als es sich über
Appellentscheidungen ausschweigt. Er liess indes offen, um welche Art
der Lücke es sich dabei handelt!??.
ı20 Vgl. VBI 1995/13, Entscheidung vom 10.5.1995, LES 1995, S. 80 (83); VBI 1947/8, Ent-
scheidung vom 10.4.1947, ELG 1946-47, S. 64 (65 f.); grundlegend VBI 1946/12, Ent-
scheidung vom 10.9.1946, ELG 194647, S. 60 (64); Häfelin/Haller Nr. 117: Walter/
Mayer, Bundesverfassungsrecht Nr. 136; Bydlinski, S. 247.
Vgl. StGH 1994/12, Urteil vom 4.10.1994, LES 1995, S. 30 (33); StGH 1983/3, Urteil
vom 15.9.1983, LES 1984, S. 31 (32), wonach Privatpersonen zur Sicherung politischer
Rechte keine Anträge auf Erlass einstweiliger Verfügungen stellen können. “Die Behe-
bung dieser Lücke ist freilich Sache des Gesetzgebers, nicht des Staatsgerichtshofes”.
Vgl. ferner StGH 1983/3, Urteil vom 15.9.1983, LES 1984, S. 31 (32); StGH 1983/5, Ur-
teil vom 15.9.1983, LES 1984; S. 62 (65) und StGH 1983/5/V, Urteil vom 15.12.1983,
LES 1984, S. 68 (72) zur selben Problematik.
ı2 Vgl. Entscheidungen des Eidg. Versicherungsgerichts 1951, S. 208 und dazu S. 240, Anm. 36,
123 Vgl. SCGH 1995/20, Urteil vom 24.5.1996, LES 1997, S. 30 (38) zu Art. 38 StGH.
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