Dann kommt das alte Beck-Feger-Huus mit der stei-
len Steinstiege, die ich täglich einfach besteigen
muss. Sie ist umgeben von einem Mauergewölbe und
führt ins Nichts. Auf der obersten Stufe wird Rast ge-
macht. An heissen Tagen ist es dort wunderbar kühl.
Der erste Biss ins Pausenbrot.
Bis zur Vätterlischual müssen mindestens noch drei
Stationen gemacht werden. Ohne durch alle kleinen,
verschiedenfarbenen Scheiben in Grosstante Gretlis
Laden zu gucken, kann ich sowieso nicht weiterge-
hen. Ich sehe die vielen schönen Sachen, die Waage
mit den kleineren und grösseren Gewichtssteinen aus
glänzendem Messing, die ich hin und wieder polie-
ren darf, das grosse Glas mit den rosa Himbeerbollen,
die Mehltruhe mit dem Holzschöpfer drauf, das Ka-
threiner-Kaffee-Plakat, das mich immer wieder faszi-
niert: Es sitzt ein kleiner Junge mit Zylinder und Rie-
senbrille auf einem Nachttopf, eine Zeitung in den
Händen haltend. Was darunter geschrieben steht,
kann ich noch nicht lesen, weiss von Tante Gretli je-
doch, was es heisst, nämlich: «Onkel Doktor sagt,
trink Kathreiner».
Nebst Schuhwichse, Hosengummi, Hühneraugensal-
be, runden Kaffeezusatzpäckli gäb’s noch Dutzende
von Sachen in rot, blau, gelb und grün zu bestau-
nen, aber ich muss ja weiter. Auf dem Rückweg, das
weiss ich genau, darf ich länger hier verweilen, denn
dann steht das tägliche Füdifminuta-Söppli für
mich bereit: Bouillon, geröstete Brotwörfili, Schneit
let, in einer grossen Tasse,
Wenn ich Glück habe, kann ich beim Beck Weis-
haupt sehen, wie mit einer langen Holzkelle Brotteig
in den schwarzen Ofen geschoben wird. Kelle und
Tücher werden nachher im Dorfbach gegenüber der
Bäckerei gewaschen.
Letzter Halt ist beim hundertjährigen Mann direkt
unter dem Kindergarten. Den muss ich einfach täg-
lich sehen. Meistens sitzt er in der Stube beim gros-
sen Ofen auf dem Kuuschbenkli, Keiner im Dorf
kann schönere Geschichten erzählen. Zudem gibt's
in seinem Haus das beste Sauerkraut; das sei so gut,
sagt er, weil es im Ofaröhrli stunden- und tagelang
langsam schmoren könne.
Wieder einmal war es für heute also nichts mit dem
«z’allerzerschta doo gse», denn die Vätterlischual
hat ihren Betrieb bei meinem Eintreffen schon längst
aufgenommen.
Ich bin gerne {ir Välterlischual, Schwester Lidwina ist
unsere Kindergärtnerin. Ich mag sie und sie mag
mich. Wir basteln einen Stern. In der Mitte ist ein
Engelbild. Drum herum werden Seidenfäden ge-
spannt, weisse und violette, ganz dünne. Die Tugend
«Geduld» ist nicht meine Sache, so gerne ich möch-
te, dass mein Stern der Schönste von allen würde.
Schwester Lidwina hilft mir viel. So entsteht ein wun-
derschönes Geschenk für Mama, das in einer
Schachtel im Kindergarten aufgehoben wird bis
Weihnachten. Natürlich kann ich unmöglich so lan-
ge warten, ohne mit meiner Mutter die riesige Vor-
freude zu teilen.
Wir flechten glänzende Papierstreifen ineinander
und es entstehen kleinere und grössere Matten. Wir
schneiden Bilder aus alten Zeitschriften und kleben
sie in Alben. Wer ganz tüchtig und exakt ist, erhält
einen sogenännten «Fleisszettel», darauf steht‘
«Dem fleissigen Kinde», Allzuviele habe ich nicht er
halten, deshalb weiss ich auch nicht, was für ein be
sonderes Geschenk jene erhielten, die es zu einer
Sammlung von zehn Zetteln brachten.
Was mich stört: Buben dürfen Häuser, Türme,
Schlösser bauen, sie dürfen Briefträger, Zugführer,
Pfarrer spielen. Wir Mädchen aber müssen uns mit
Puppen beschäftigen, mit Kochherd und Geschirr
hantieren, mit Besen und Flaumer üben. Zuhause
das gleiche Elend: der eine Bruder spielt den Post-
meister, der andere den Briefträger und ich darf im
besten Fall die Babi-Lwisa darstellen, welche Post in
Empfang nimmt.
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