nur wenig zusätzlicher Wohnraum bereitgestellt wer-
den konnte, mussten die Fabriken vor allem für die zu-
gezogenen Arbeiter Wohnungen errichten. Die Woh-
nungen waren, gemessen am Wohnkomfort der bäu-
erlichen Bevölkerung, im allgemeinen gut eingerich-
tet, und die Mieten den Einkommensverhältnissen der
Arbeiter angepasst.
Die Weberei im Vaduzer Mühleholz errichtete ihr er-
stes Arbeiterwohnhaus im Jahre 1880. Sieben Jahre
später konnte sie bereits für 19 Familien Wohnungen
bereitstellen. Die meisten Arbeiterwohnungen erstell-
te die Spinnerei in Vaduz. Schon wenige Jahre nach
ihrer Gründung verfügte sie über 8 eigene Arbeiter-
wohnungen und hatte in Vaduz ausserdem noch 15
Wohnungen gemietet, Bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkrieges baute die Firma weitere 11 Arbeiter-
wohnhäuser.
Ausser Wohnungen wurden den Fabrikarbeitern noch
andere «Sozialeinrichtungen» geboten, die aber ihre
Bezeichnung nicht immer verdienten. Ab 1911 wurde
im Mühleholz und ab 1912 in Triesen eine Kostgebe-
“ei für Fabrikarbeiter geführt. Die Mechanische We-
berei in Vaduz kaufte eine Zeit lang Lebensmittel im
Grossen ein, um diese gegen angeblich bescheide-
1en Spesenaufschlag an ihre Arbeiter weiter zu ver
kaufen. In Wirklichkeit lagen die Lebensmittelpreise
kaum unter denen der lokalen Handlungen. Die Firma
wurde sogar verdächtigt, die Arbeiterfamilien durch
Lebensmittelschulden an ihren Betrieb zu ketten.
Eine andere, in ihrer Anlage etwas zweifelhafte Sozia-
'einrichtung schuf die Firma Jenny-Spörry & Cie. im
Jahre 1900 zusammen mit der Gemeinde Vaduz. Ins
Bürgerheim der Gemeinde wurden schulentlassene,
«gesunde und arbeitsfähige Armen- und Waisenkin-
der» des Landes, aber nur Mädchen, aufgenommen.
Diese Mädchen arbeiteten in der Spinnerei Vaduz, die
ihnen dafür die Unterkunft im Bürgerheim bezahlte.
Was die Mädchen über das Kostgeld hinaus erarbei-
teten, legte man ihnen als Spargeld an. 1911 baute die
Firma eines ihrer Arbeiterhäuser in ein Mädchenheirr
um. Zur Leitung des Heimes wurden mit Einverständ-
nis des bischöflichen Ordinariates Chur, Kloster
schwestern von Menzingen zugezogen. Das Heim war
für in- und ausländische Mädchen ab 15 Jahren ge-
dacht. Die Mädchen arbeiteten in der Fabrik gegen ei-
nen Taglohn von 1.50 bis 2 Kronen unter gleichen Be-
dingungen wie die Arbeiter. In der Freizeit waren sie
zur Mitarbeit im Heim und zum Besuch der Haushal-
tungs- und Fortbildungsschule verpflichtet. Der Lohn
musste abgegeben werden. Was nach Abzug des
Kost- und Logisgeldes übrigblieb, wurde den Eltern
der Mädchen überwiesen. Das Mädchenheim wurde
schon bald nach seiner Gründung, zu Beginn des
Weltkrieges nämlich, wieder aufgelassen. Mag es
auch den damaligen Vorstellungen einer Wohlfahrts-
einrichtung entsprochen haben, so wäre ihm nach
heutigen Begriffen das Attribut «sozial» wohl nicht ge-
geben worden.
Arbeiterbewegungen
Organisierte Arbeiterbewegungen oder -vereine gab
es vor dem Weltkrieg keine in Liechtenstein. Dennoch
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Industrie im 19. Jahrhundert
zeigten sich hie und da Anzeichen zu einem gemein-
samen Vorgehen der Arbeiter zur Wahrung ihrer In-
teressen. Vom 20. Juli 1884 datiert eine Beschwerde:
schrift, anonym verfasst im Namen der Arbeiter der
Weberei in Triesen. Dieses Schreiben, «ein Hülferuf ar-
ner, über die Maaßsen gequälter Arbeiter», ist eine
3eschwerde über die zu strenge Behandlung und zu
starke Einschränkung der Belegschaft. Nachdem die
Regierung zwei Fabrikarbeiterinnen aus Triesen ein-
vernommen hatte, erklärte sie die aufgeführten Kla-
Jen als grundlos. Der vermutlich erste Vorstoss von
Arbeitern in eigener Sache war gescheitert.
Mehr Erfolg hatten die Fabrikarbeiterinnen der Me-
chanischen Weberei Vaduz. Nachdem ihnen ohne be-
sondere Ankündigung die Lohnsätze beträchtlich
gekürzt worden waren, traten sie am 6. April 1898 in
den Ausstand. Eine fünfköpfige Delegation sprach bei
der Regierung vor und ersuchte diese um ihren Bei-
stand. Noch am selben Tag begab sich der Landes-
verweser in Begleitung des Vaduzer Bürgermeisters
in die Fabrik, um sich persönlich von den Missstän-
den zu überzeugen und den nötigen Druck auf die Fa-
briksleitung auszuüben. Schon am folgenden Tag
nahm die Betriebsleitung die angesetzten Lohnreduk-
üonen praktisch völlig zurück und zeigte sich bereit
eine Reihe anderer Missstände zu beseitigen. Der er-
ste und einzige liechtensteinische Arbeiterstreik im 19
Jahrhundert war erfolgreich verlaufen. Die Arbeiterin-
nen hatten sich korrekt verhalten und im Einverneh-
men mit den Behörden eine Verbesserung ihrer Ar-
Deits- und Lohnverhältnisse erzielt.
In der wirtschaftlichen Not während des Weltkrieges
war die Bereitschaft unter den Arbeitern, sich zu einer
gewerkschaftlichen Vereinigung zusammenzusch-
liessen, wieder stärker geworden. Die «Union der Tex-
tilarbeiter Österreichs, Sekretariat Vorarlberg» wollte
Betriebsversammlungen im Fürstentum abhalten mit
dem Ziel, auch die Liechtensteiner Arbeiter in einer ei-
jenen Gewerkschaft zusammenzuführen.
Unter Hinweis auf die Souveränität Liechtensteins und
aus «Gründen der öffentlichen Ordnung» verweigerte
die Regierung den Vorarlberger Gewerkschaftskrei-
sen die Abhaltung von Versammlungen in Liechten:
stein. In der Folge setzte sich die sozialistische Pres-
se Vorarlbergs für die Textilarbeiter in Liechtenstein
ein und legte gewisse Missstände in liechtensteini-
schen Fabriken offen dar. Wenn auch das Hauptziel
der Vorarlberger Sozialisten, die Bildung einer Ge-
werkschaft der liechtensteinischen Arbeiter, nie in Er-
füllung ging, so erreichten sie wenigstens gewisse Ver-
besserungen in den Fabriken des Landes.
Gewerbeinspektorat
Positiv wirkte sich die Einführung der Gewerbein-
spektion auf die Verhältnisse in den liechtensteini-
schen Fabriken und Betrieben aus. Das in Österreich
seit 1883 eingeführte Gewerbeinspektorat wurde
1885 mit Einwilligung des k. k. Handelsministeriums
auch auf das Fürstentum Liechtenstein ausgedehnt.
Tabriken und Gewerbebetriebe wurden seither in re-
gelmässigen Abständen vom k. k. Gewerbeinspektor
besichtigt. Er kontrollierte Fabrikordnungen, Kranken-