Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2002)

DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2002 BLATT 
I INLAND PLATTFORM VERFASSUNG 
5 FAZIT 
Standpunkt Kleber: «Ein uner­ träglicher Vorgang» SCHAAN - Im September haben 53 Perso­ nen aus Liechtenstein beim Europarat die Zulässigkeit der Volksinitiative des Fürsten­ hauses in Frage gestellt. Im nebenstehenden Forums-Beitrag befasst sich alt Regierung-" schef Dr. Walter Kieber mit diesem Vor- stoss. Nachstehend die Schlussfolgerungen von Walter Kieber: «Für das liechtensteinische Volk ist das Ganze ein unerträglicher Vorgang und wahr­ scheinlich einmalig in Europa. Man kann sich kaum vorstellen, dass englische, franzö­ sische oder schweizerische Politiker gegen das eigene Land ein Gleiches tun könnten und eine Schädigung seines Ansehens in Kauf nehmen würden. Es ist nur zu hoffen, dass sich der Europarat in Strassburg aus der innerliechtensteinischcn Auseinanderset­ zung um die Verfassung hcraus-haltcn wird. Das Fürstentum Liechtenstein lässt sich seine Verfassungsautonomie mit Bestimmt­ heit nicht nehmen. Ein erstes Zeichen hat der Landtag gesetzt, als er die Vereinbarkeit der Volksinitiative mit den bestehenden Staats­ verträgen festgestellt und den Verfassungs­ entwurf des Fürsten und des Erbprinzen zur Stimmensammlung freigegeben hat. Nun ist das liechtensteinische Volk am Zug. Von der Gegnerschaft wird immer wieder behauptet, dass die Volksabstimmung über die Volksinitiative aufgrund von Äusserun­ gen des Fürsten letztlich eine Abstimmung über den Wohnsitz des Fürsten sei. Ich per­ sönlich sehe die Sache von einer ganz ande­ ren Seite. Juristisch gesehen gibt die Volks­ abstimmung dem liechtensteinische Volk die Gelegenheit, über den von der Verfas­ sungskommission mit dem Fürsten und dem Erbprinzen vereinbarten Vcrfassungsre- form-Entwurf abzustimmen. In ihrem Kerngehalt ist die Volksabstim­ mung jedoch eine Einladung und ein Aufruf an alle Liechtensteiner und Liechtensteine­ rinnen, mit ihrer Stimmabgabe zu den fol­ genden zwei eng miteinander verbundenen Fragen eine Antwort zu geben: • Haben wir Liechtensteiner weiterhin Vertrauen in unser Fürstenhaus? • Stehen wir Liechtensteiner weiterhin zu unserer dualen Staatsform, zum fruchtbaren Miteinander von Volk und Fürst? Für mich persönlich ist die Antwort klar. Wir Liechtensteiner müssen durch die positi­ ve Bearitwortung dieser beiden existentiel­ len Fragen, den Willen bekunden, dass wir zu dem in unserem Staat seit 1921 mit Erfolg praktizierten Konsensmodell zurückkehren wollen, das in den hinter uns liegenden Jah­ ren durch eine immer mehr ins Negative aus­ ufernde Verfassungsdiskussion leider schwer gestört wurde. Damit muss jetzt Schluss sein. Es steht zu viel auf dem Spiel. Es geht um das Fürstentum Liechtenstein.» 
Durch «Strassburg» stoppen? Gedanken zur Verfassungsreform - von alt Regierungschef Dr. Walter Kieber ANZEIGE 
Ich muss bekennen, dass ich noch bis vor einem Jahr der vom Land­ tag im November 1996 verpassten Chance nachgetrauert habe, als dieser das konkrete Angebot des Fürsten, die Verfassungsdiskussion einzustellen und es bei der Verfas­ sung von 1921 zu belassen, mit 23 zu 2 Stimmen ablehnte. Lediglich der damalige VU-Präsidcnt und der heutige Landtagspräsident stimm­ ten als Abgeordnete für das Ange­ bot des Fürsten. Von den 23 Volks­ vertretern, die diesen Weg nicht gehen wollten, traten in der dama­ ligen Debatte vor allem die Refor­ mer auf den Plan. Deren Revisions­ begehren gipfelten letztlich in einem Forderungskatalog, der von seinem Inhalt und Umfang her einen Konsens mit dein Fürsten in weite Ferne rücken Hess. Schon damals wurde in einzelnen Voten unsere duale Staatsform in Frage gestellt. Die in den folgenden Jahren trotz intensiver Arbeit der damaligen Verfassungskommission eingetre­ tene Stagnation in 
derVerfassungs- MITTLERIN ZWI­ SCHEN FÜRST UND LANDTAG frage wurde erst vor einem Jahr durch die Einbringung einer Regie­ rungsvorlage in den Landtag über­ wunden. Das Bedeutsame an der Regierungsvorlage war, dass die Regierung damit den politischen Willen bekundete, als Mittlerin zwischen Fürst und Landtag aufzu­ treten und eine Grundlage für einen tragbaren Verfassungskompromiss zu schaffen. Nach einer zweitägi­ gen Debatte wurde die Aufgabe einer vom Landtag neu gewählten Verfassungskommission überbun- den. In zahlreichen Sitzungen und mehrfachen Gesprächen und Ver­ handlungen mit dem Fürsten und dem Erbprinzen brachte es die 
Ver- ERGEBNIS IST MEHR ALS RESPEKTABEL fassungskommission mit Unter­ stützung durch den Regierungschef zustande, Bewegung in die Verfas­ sungsfrage zu bringen. Das Ergebnis ist mehr als respek­ tabel. Der Verfassungskommission ist es gelungen, mit dem Fürsten und mit dem Erbprinzen einen gemeinsamen Kompromiss-Ent- wurf zu verabschieden. Dies war nur möglich, weil beide Seiten auf­ einander zugegangen sind und Konsensbereitschaft zeigten. Es ist erfreulich, dass der Landesfürst und der Erbprinz keinen der eige­ nen Entwürfe, wie sie im roten und grünen Büchlein niedergelegt waren, sondern den mit der Verfas­ sungskommission vereinbarten Kompromiss-Entwurf nunmehr als Volksinitiative eingebracht haben. Der Kompromiss-Entwurf ent­ hält neue Kompetenzzuweisungen und Kompetenzverlagerungen, die alle objektiv begründbar sind und das in der Verfassung von 1921 geschaffene Machtglcichgewicht nicht verändern. In einigen 
Berei-«Ein 
unerträglicher Vorgang»: Alt Reglerungschef Dr. Walter Kieber. chcn findet eine weitere Demokra­ tisierung der Monarchie und eine Stärkung des Rechtsstaates statt. Ich werde meinen Standpunkt in einem späteren Zeitungsbeitrag näher begründen. Kaum dass die Volksinitiative vom Fürsten und vom Erbprinzen angemeldet war, trat das 
«Demo- MACHTC,LEICHGE­ YVICHT WIRD NICHT VERÄNDERT kratiesekretariat» mit zwei Pauken- schlügcn an die Öffentlichkeit. Der erste Paukenschlag erfolgte am 22. August 2002 mit der Publikation eines 20seitigcn Memorandums, das von alt Regierungschef Dr. Gerard Batliner, Prof. Dr. Andreas Kley und alt Vizcchef Dr. Herbert Wille im Auftrag des «Demokratie­ sekretariates» verfasst wurde. Gegenstand des Memorandums ist die Frage der Vereinbarkeit der vom Fürsten und vom Erbprinzen angemeldeten Volksinitiative mit den «Regeln und Standards des Europarates und üet-Europäischen Menschenrechtskonvention». Bei der Lektüre des Memoran­ dums sticht ins Auge, dass vorder­ gründig die Bestimmungen der Volksinitiative auf ihre Vereinbar­ keit mit den Regeln und Standards des Europarates und der Europä­ ischen Menschenrechtskonvention geprüft wurden. Im Kern aber stellt das Memorandum - unter Zugrun­ delegung extremer Krisenszenarien - die heutige duale Verfassungs­ struktur auf den Prüfstand. In den 8 Kapiteln des Memorandums gera­ ten nämlich Regelungen der Volks­ initiative in die Schusslinie', die bereits seit 80 Jahren als Bestand­ teil der Verfassung von i921 Gel­ tung haben. Es sind dies die «Immunität des Landesfürsten», das «Sanktionsrecht des Landes­ fürsten», das «Notverordnungs­recht 
des Landesfürsten», das «Recht des Landesfürsten, die Regierung bei Vertrauensverlust des Amtes zu entheben» und das «Recht des Fürstenhauses, die Thronfolge, die Volljährigkeit des Fürsten und des Erbprinzen sowie die Vormundschaft im Hausgesetz zu regeln». Die Schlussfolgerung des Memorandums, wonach die Volks­ initiative mit den europarechtli­ chen Regeln und Standards nicht vereinbar ist, hatte keinen langen Bestand. Der Landtag, der von Gesetzes wegen die Frage der Ver­ einbarkeit der Volksinitiative mit den geltenden Staatsverträgen zu prüfen hatte, kam vor zwei Wochen mit den 13 Stimmen der 
Regie- PAUKENSCHLÄGE rungspartei und 7 Stimmen der Opposition zu einem gegenteiligen Ergebnis. Es wäre weit gefehlt, die­ sen Beschluss des Landtages als politischen Entscheid abzutun. In der vor der Abstimmung stattge­ fundenen Debatte identifizierte sich der VU-Fraktionsvorsitzende Dr. Peter Sprenger vollumfänglich mit dem Memorandum und trug dessen Kritikpunkte und Schlus­ sfolgerung fast wortwörtlich vor. Es war beeindruckend, am Landes­ kanal miterleben zu können, wie Landtagsvizepräsident Dr. Peter Wollt anschliessend mit der ihm eigenen juristischen Brillanz die Ausführungen von Dr. Peter. Spren­ ger Punkt für Punkt und mit ihnen auch die Kritikpunkte des Memo­ randums widerlegte. Der zweite Paukenschlag war das am 9. September von Mitglie­ dern des «Demokratiesekretaria­ tes» beim Europarat in Strassburg eingereichte Gesuch, die Verfas­ sungsinitiative des Fürsten und des Erbprinzen «im Rahmen des Moni­ toring-Verfahrens auf ihre Verein­barkeit 
mit den demokratischen, rechtsstaatlichen und grundrechtli­ chen Regeln und Grundsätzen des Europarates zu überprüfen». Das von alt Regierungschef Dr. Gerard Batliner und seinen beiden Mitau­ toren verfasste Memorandum wurde von den Gesuchstellern gleich mitgeliefert. Das 76 Parlamentarier umfassen­ de «Monitoring-Committee», zu deutsch «Überwachungsaus- schuss», wurde 1997 anlässlich des Beitritts der «neuen Demokratien» zum Europarat, vorwiegend der früheren Staaten des Ostblocks institutionalisiert. Der Überwa- chungsausschuss hat die Aufgabe, in einem «Monitoring- bzw. Über­ wachungs-Verfahren» die Erfüllung der von den beigetretenen Staaten übernommenen Verpflichtungen sowie die Einhaltung der von ihnen anlässlich des Beitrittes abgegebe­ nen Erklärungen zu überwachen. Derzeit unterstehen Albanien, Armenien, Aserbcidschan, Georgi­ en, Moldawien, Russland, die Tür­ kei und die Ukraine einem Monito­ ring- bzw. Überwachungs-Verfah- ren. Nach dem Willen des früheren VU-Regierungschefs Dr. Mario Frick, des VU-Fraktionsvorsitzen- den Dr. Peter Sprenger und des FL- Landtagsabgeordneten Paul • Vogt, welche das Gesuch an den Europa­ rat unter diesen politischen 
Funkti- ERKENNBARE ABSICHT onsbezeichnungen unterschrieben haben, soll sich nun auch das Für­ stentum Liechtenstein und damit sein Staatsoberhaupt, sein Parla- . ment, seine Regierung und schlies­ slich die Stimmbürgerschaft als Organ der direkten Demokratie dieser erlesenen Gruppe von Staa­ ten hinzugesellen und ebenfalls einem Überwachungsverfahren unterstellt werden. Wie die Überwachung Liechten­ steins in Strassburg verläuft, ist nicht absehbar, da der Fall einzig­ artig ist. Hinsichtlich der politi­ schen Ziele, die tnit dem Gesuch in Strassburg verfolgt werden, liegt jedoch die Vermutung nahe, dass die Volksinitiative des Fürsten und des Erbprinzen auf irgendeine Art gestoppt oder in Misskredit gebracht werden soll. Ein anderer Grund für die erfolgte Intervention in Strassburg ist nicht erkennbar. Ihrer «grossen Sorge», wie sie sich im Gesuch an den Europarat aus­ drücken, «dass sich herausstellen könnte, dass Liechtenstein mit den Verpflichtungen als Mitgliedsstaat des Europarates nicht mehr im Ein­ klang steht», sind die Gesuchsteller seit dem 24. Oktober jedenfalls enthoben. An diesem Tage stellte der Landtag mit 20 Stimmen, dar­ unter 7 Stimmen von der Oppositi­ onsbank, die Vereinbarkeit der Volksinitiative mit der Satzung des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. Für das liechtensteinische Volk ist das Ganze ein unerträglicher Vorgang und wahrscheinlich ein­ malig in Europa. (Fortsetzung s. nebenstehende Breitspalte «Fazit»).
	        

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