Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2002)

28 Freitag, 16. August 2002 
AUSLAND Liechtensteiner VÖLKSBLÄTT 337 Tage in der Hölle des Konzentrationslagers Traumatische Erinnerungen des Husein Grahic an die Zeit des Balkankrieges Sommer 1992. Der Balkankon­ flikt hat sich von Kroatien auf Bosnien-Herzegowina verlagert. Doch die Berichterstattung kon­ zentriert sich auf Sarajevo. Die Medien haben die belagerte Stadt zum Kriegszeritrum er­ klärt und das Hinterland den Kriegstreibern und Kriegsver­ brechern unkontrolliert überlas­ sen. 
Zahllose Menschen werden vertrieben, ermordet, in Kon­ zentrationslagern gefangen ge­ halten. Unter ihnen die Häftlin­ ge des KZ-Cafes von Vila, die heute, zehn Jahre später, allein mit ihren traumatischen Erin­ nerungen sind. Heidi Rink e Husein Grahie ist mit den Nerven am Ende. Er kann nicht mehr. «337 Tage war ich in einem Konzentrationsla­ ger!» Er will darüber reden. Er muss. Das war die Hölle, sagt er immer wie­ der, wirklich, die Hölle! «Es War im Juli 1992, als serbische Milizen in unser Dorf Selo Pridelj ka­ men, uns Moslems und Kroaten zu­ sammentrieben, auf Lastwagen ver­ frachteten und nach Vila transportier­ ten. Dort sperrte man uns im C'afö Per- co's Disko ein.» Vila ist ein Vorort von Doboj, eine 
Husein Grahic und seine Frau leiden unter den Erinnerungen an die schreckliche Zeit des Krieges. (Bild: Heidi Rinke) seit 1991 von den Serben kontrollierte Stadt in Nordostbosnien. Hier sind 
«Bitte töte mich nicht!» Sehic, 44, hager, weisshaarig, an der an den Mund und weint lautlos. Gefangenen hofften, befreit zu wer- einmal Moslems, Kroaten und Serben Am Abend, des 11. Juli schien die Reihe. Inzwischen haben sich, mehr «Dann richtete der Soldat sein Ge- den. Tatsächlich wurde nur etwa die friedlich miteinander umgegangen. Schiesserei auf die Gefangenen über- und mehr ehemalige Häftlinge des KZ- wehrauf mich», fährt Safet Ahmic Hälfte abgeholt und in die Haftanstalt Doch der Krieg hat Vila jahrelang zu haupt nicht mehr zu enden. «Die einen Cafös von Vila um uns versammelt, fort. «Ein anderer sah das, rannte auf nach Doboj überstellt, wo man sie et- einem verlassenen Front-Ort gemacht, zielten auf uns, während sie vorbei- und bestätigen die Berichte. «Wir ihn zu und schrie <Tu's nicht! Sonst was besser behandelte. Für die anderen in dem serbische Soldaten eine Mi- gingen, andere schössen mit einem mussten uns in zwei Reihen aufstellen, wird Gott uns bestrafen!) So durfte ich ging der Terror im KZ-Cafö weiter. Hu- litärbasis eingerichtet hatten. Maschinengewehr, welches auf einem die Hände an den Kopf legen und auf am Leben bleiben.» Di? Soldaten be- sein Grahic hatte seine Tage genau ge- Jetzt haben serbische Familien-be*- ; Auto montiert war.» Meho Hadjan, der den Boden schauen. <Wer den Kopf fahlen ihm, die Leiche des jungen zählt: Er litt insgesamt 337 Tage unter gönnen, die zerschossenen Häuserreste neben Husein Grahic stand, wurde ge- hebt oder zu fliehen versucht, wird er- Mannes in die Bosna zu werfen, «da- der Gewalt der Verbrecher. wohnlich zu gestalten und zerstörte troffen. Im Rücken und im Bein. «Als schössen!), brüllte einer der Soldaten, mit sie nicht stinkt. Ich setzte Safet Wasser- und Gasleitungen zu reparie- er schwer verwundet am Boden lag, Wie ernst er es meinte, bewies er, als er auf, und die letzte Luft entwich aus habe jede Nacht ren. Makabres Detail: Das Lokal Per- stürzte sich ein junger serbischer Sol- einem der Gefangenen eine Kugel in seinem Mund. Ich hatte nicht die Kraft, Albträume» co's Disko blieb während des Krieges dat mit langem schwarzem Haar und den Kopf jagte. Der Mann war sofort ihn allein zu schleppen. Drei Kamera- Heute, zehn Jahre später. Ein sehr eines der wenigen intakten Gebäude, einem roten Band um . den Kopf auf tot. Es war ein Kroate.» den kamen mir zu Hilfe. Gemeinsam kleines, verwahrlostes Haus in Zenica, weil es als Konzentrationslager ge- seinen Körper und schnitt ihm die Die Männer marschierten Richtung warfen wir ihn in den Fluss. Einmal eingeklemmt zwischen zwei Militär­ dient hatte. Kehle durch.» Der gleiche Soldat nahm Frontlinie. «Nach etwa hundert Metern noch tauchte der Körper aus dem Was- Basen: türkische SFOR-Truppen hin- «Wir waren 312 Männer», erinnert sich danach Husein Grahic vor, schlug mussten wir stehen bleiben und unse- ser auf. Dann verschwand er.»' term Haus, Einheiten der BiH (Bos­ sich Husein Grahic. Nervös fährt er ihm brutal ins Gesicht. Er und vier an- re Oberkleider ausziehen. Die Soldaten , nisch-Moslemische Armee) auf der an- sich mit den Fingern durch das stark dere Gefangene mussten sich nun Kopf teilten uns in Reihen zu je zehn Perso- 
Aber die Serben waren noch deren Seite. Huso Ahmic bittet mich in ergraute Haar. Seine Gesichtszüge sind voraus auf den Boden legen, und der nen im Abstand von 50 Metern ein, 
nicht fertig den Wohnraum. Er ist einfach einge- hart und kantig. Die Augen blicken Soldat prügelte mit seinem Gewehr auf und wir zogen weiter, bis wir die erste Am 19. Juli wurde der tödlich ver- richtet, es gibt keinen Strom. «Wir unruhig. Zitternd zündet er sich eine die Männer ein. Frontlinie erreichten. Überall wurde wundete Kommandant begraben. Die- können die Stromrechnung nicht be­ Zigarette an. «In den ersten fünf Tagen «Mujo lag neben mir. Der Soldat geschossen. Granaten explodierten, sen Tag sollte keiner der Gefangenen zahlen. Woher sollen wir 380 KM neh- bekamen wir nichts zu essen. Nur et- zerrte ihn hoch und wollte auch ihm Die Serben hatten sich zwischen unse- jemals vergessen. «Um Viertel vor men?» KM - konvertible Mark - ist die was Wasser zum Trinken.» die Kehle durchschneiden. Mujo hielt ren Reihen versteckt. Ich weiss nicht, Zwölf forderten uns serbische Solda- heutige Währung in Bosnien. Eine KM Ein anderer ehemaliger KZ-Häftling, sich die Hände vor den Hals und bet- was mit den Leuten in der ersten Reihe ten ins Freie», beschreibt Fadil Sehic. entspricht etwa 50 Cents. Huso Ahmic aus Maloj Bukovac, ist telte: «Bitte töte mich nitht! Wer soll geschehen ist. Ich war in der vierten.» «Einer zog eine Liste mit unseren Na- Das Ehepaar lebt von 100 KM Pen- bereits am 16. Juni «abgeholt» worden, dann für meine beiden Kinder sorgen?) 15 lebende Schutzschilder aus den men hervor. Die der Kroaten waren sionsbezug. Huso Ahmic ist inzwi- «Mein Nachbar, der Polizist Marko Ze- Der Soldat schnitt ihm dann nur in die ersten zwei Reihen starben. Die fünf eingekreist.» An jenem Tag hatten sehen 55 und schwer krank. Er leidet cevic, hatte mich an den Chef der Mi- Hände.» Überlebenden verdanken einem töd- auch die Angriffe der HVO - bosnisch- an einer Herzerkrankung und an psy- lizen und Polizei, Dragan Jorgic", aus- Die Polizeistation, berichten die ehe- lieh verwundeten serbischen Kom- kroatische Armee - auf die bosnischen chischen Störungen wie Angstzustän- geliefert. Etwa 50 bewaffnete serbische maligen Gefangenen, lag etwa 150 mandanten das Leben. Sie hatten ihn Serben begonnen. Folglich bekamen den, Atembeschwerden, Herzrasen, Milizen in Camouflage-Uniformen Meter von der Szene entfernt. Ein ser- aus dem Kampffeld schleppen müssen, die kroatischen Gefangenen eine Schweissausbrüchen. «Ich habe jede und roten Berets stürmten unser Dorf, bischer Polizist muss wohl die Schreie Vor seinem Tod hatte er noch den Be- «Sonderbehandlung». Einigen wurde Nacht Albträume», klagt er. «Meinem Einige von ihnen hatten sich Strümpfe und Schüsse gehört haben. Er eilte auf fehl zum Rückzug gegeben. Um die Insektenvertilgungsmittel unter die Sohn Senad - er war im gleichen Kon- übers Gesicht gezogen. Sie kamen ver- den wütenden Soldaten zu, riss ihn Serben von den Feinden abzuschir- Achseln und auf die Genitalien ge- zentrationslager - geht es auch sehr mutlich aus unserer Gegend und woll- von seinem Opfer fort, hielt ihn fest men, mussten die Gefangenen in einer sprüht. «Dann zwangen sie Anto Cicak, schlecht. Er redet kaum noch und ist ten nicht erkannt werden.» und forderte die anderen auf, wegzu- engen Reihe zurück nach Vila mar- einen drei Meter hohen Lichtmast depressiv.» Senad wohnt zur Zeit in ei- rennen. Daraufhin wurde der serbische schieren. Plötzlich wurde die Truppe hochzuklettern und Kopf voraus hin- nem Barackenlager für Flüchtlinge. Er «Dort begannen die Verhöre» Polizist von anderen serbischen Mili- von einem der Soldaten angehalten: unterzuspringen. Beim zweiten Mal hat keine Arbeit und keine Zukunfts- Zehn Tage waren Huso Ahmic und zen niedergeschlagen. «Das ist der Bürgerkrieg von Doboj!», fiel Anto in ein Koma. Endlich wurden perspektive. Wie die meisten Bosnia- andere Muslime und Kroaten im weni- Doch was an diesem Tag geschah, sagte er. «Die letzten beiden müssen wir wieder ins Lager zurückgebracht, ken, die während des viereinhalb Jah- ge Kilometer entfernten Lagerhaus der war noch mild im Vergleich zu den Er- zurückbleiben!» Wir dachten, die Tortur sei zu Ende.» re dauernden Krieges im Land geblie- Lebensmittelfabrik Bosanka inhaftiert, eignissen des folgenden. «Der 12. Juli «Ich war einer der letzten zwei», Aber die Serben waren noch nicht ben sind, die in Konzentrationslagern Dann wurden auch sie in Perco's Disko war ein Feiertag: Sveti Petar. Fuck that meldet sich der 47-jährige Safet fertig. Jetzt stellten sie Paare zusam- inhaftiert waren, die vertrieben wur- überfilhrt. «Dort begannen die Verhö- Petar!», murmelt Husein Grahic. Tags- Ahmic. «Der andere hiess Safet Hami- men: Vater und Sohn. Neffe und On- den und alles verloren haben. Mit den re. Und die Schläge und die Folterun- über war es noch ruhig. «Um halb sie- -dovic. Er war so jung. Erst 21 Jahre alt. kel. Bruder und Bruder. Bester Freund Folgen ihrer traumatischen Erlebnisse gen», fährt Husein Grahic fort. ben Uhr brach die Hölle aus, nachdem Und das hier ist seine Mutter.» Fatima und bester Freund. Die anderen Gefan- im Krieg müssen diese Menschen nun Einige Gefangene verschwanden wir von der Arbeit zurück ins Lager Haraidovic, eine verhärmt aussehende genen mussten einen Boxring formen, fertig werden. spurlos. Die übrigen wurden in Ar- kamen. Cedo, einer der Polizisten, fcJr- Frau, lässt sich auf der Holzbank an in dem die ausgewählten Paare Was ist aus den anderen KZ-Häftlin- beitsgruppen eingeteilt. «Wir mussten derte 50 Freiwillige. Das roch fischig, der Hausmauer nieder. «Ich will es genötigt wurden, gegeneinander zu gen geworden? Einige seien schon tot, Schützengräben ausheben und Holz- Niemand meldete sich. Cedo drehte hörenl Nicht nur meinen Sohn habe kämpfen, bis einer von beiden sagt Huso Ahmic. Andere haben sich pyjamas; das sind Särge für Serben, sich um und ging. Zehn Minuten spä- ich verloren, sondern auch meinen bewusstlos war. «Ich trat gegen den da irgendwo im Land niedergelassen. In bauen.» Gierig zieht der von den ter führten fünf Soldaten 25 Gefange- Ehemann. Auch er war solch ein le- an», sagt Fadil Sehic und stösst dabei den Heimatort zurückgekehrt sei noch schrecklichen Erlebnissen gezeichnete ne ab. Ein paar Minuten später weitere bendes Schutzschild. In der zweiten seinem Bruder in die Rippen. «Er hat keiner. Und Husein Grahic? «Weiss Mann an seiner Zigarette. «Oft pas- zehn. Wir versteckten uns, wo wir Reihe.» gewonnen. Er war stärker als ich. Er ist nicht.» Huso Ahmic schüttelt den Kopf, sierte es, dass Soldaten, die von der konnten. Einer zwängte sich sogar in Safet Ahmic erinnert sich an jede halt jünger.» «Vielleicht ist er wieder nach Öster- Frontlinie zu ihrer Basis in Vila . den Kühlschrank.» Einzelheit. «Ich hörte einen Schuss Die Folter endete acht Stunden spä- reich gegangen. Er hat ja vor dem zurückkamen; mit Maschinengeweh- Mit Gewalt hatten die Serben rasch hinter mir. Ich drehte mich um und sah ter. «Um 21.45 Uhr.» Fadil Sehic; weiss Krieg dort als Gastarbeiter gelebt.» ren Feuer auf uns eröffneten. Zum ihre 50-Mann-Truppe zusammenge- den Jungen auf den Boden fallen. Im das noch genau. «Nachdem wir das Ein Gefühl der Genugtuung erfüllt Spass halt. Dann sprangen wir in die stellt, die als lebendes Schutzschild im gleichen Moment trafen meine Augen Blut aufgewischt hatten, liess man uns Huso Ahmic, als er erfährt, «dass man Schützengräben und warteten, bis sie Kampf gegen moslemische Truppen die Augen seines Mörders. Und ich be- Schlafen 
gehen.» diesen widerlichen Dragan Jorgic an aufhörten.» wirken sollte. merkte, dass ich jetzt der Letzte war.» 4. August 1992. Um zehn Uhr park- das Kriegstribunal in Den Haag ausge- «Ich war Schutzschild», ist jetzt Fadil Fatima Hamidovic presst die Hand te ein Autobus vor Perco's Disko. Die liefert hat!»
	        

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