Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2002)

1 6 Dienstag, 6. August 2002 
EU-ERWEITERUNG Liechtensteiner VOLKSBLATT «Politisch überragendes Ziel» Bis Jahresende soll die EU-Erweiterung unter Dach und Fach sein - Noch einige grosse Hürden BRÜSSEL: Die Zeit drängt: Bis zum Jahresende will die Eu­ ropäische Union das historische Ziel der Vereinigung des Konti­ nents unter Dach Und Fach ha­ ben. Bis dahin sollen die Bei­ trittsverhandlungen mit acht osteuropäischen Staaten sowie Malta und Zypern abgeschlos­ sen sein. Nach der Ratifizierung sollen diese Länder der Union dann 2004 beitreten. '  Alexander. Rat z Die Bedeutung des Projekts ist allen Beteiligten klar. «Die Erweiterung ist politisch ein so überragendes Ziel, dass man unbedingt dafür sorgen muss, dass sie. gelingt», betonte unlängst auch der deutsche Bundeskanzler Ger­ hard Schröder. «Fenster der Gelegenheit» Festgezurrt werden soll die Erweite­ rung auf dem EU-Gipfel Mitte Dezem­ ber in Kopenhagen. Dass dieser Termin unbedingt eingehalten werden muss, weiss auch der dänische Ministerpräsi­ dent und amtierende EU-Ratsvorsit­ zende Anders Fogh Rasmussen: «Schon eine kleine Verzögerung könn­ te zu einer langen Verschiebung der Erweiterung fuhren.» Das spiegelt auch die Meinung in Brüssel wider: Der für die Erweiterung zuständige EU-Kom- missar Günter Verheugen spricht von einem «Fenster der Gelegenheitdas sich aber auch wieder schliessen könn­ te, wenn wir die uns gebotene Chance nicht energisch nutzen». Die durchklingende Panik ist be­ rechtigt. Denn bis Dezember gilt es, noch einige grosse Hürden zu nehmen: Die Verhandlungen mit Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern sind zwar weit fortgeschritten. Die kritischste Frage aber, die Agrar­ politik und da besonders die Zukunft der üppigen EU-Subventionen für Bauern, ist noch ungeklärt. Und ent­ scheidend dabei ist nicht, dass sich die EU mit den Kandidaten darauf ver­ ständigt, wie die neuen Länder in die Agrarpolitik eingebunden werden. Verhärtete Fronten Zunächst müssen sich die 15 selbst auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen. Und die Fronten zwischen Nettozahlern und Nutzniessern der 
Für die EU-Erweiterung ist zunächst der Vertrag von Nizza massgebend, der am 26. Februar 2001 unterzeichnet wurde. Damit der Vertrag in Kraß tritt, muss er von allen 15 EU-Staaten ratißziert werden. Irland steht noch aus. EU-Agrarpolitik sind verhärtet. Während Deutschland, Grossbritanni­ en, Schweden und die Niederlande ei­ ne Reform der Agrarsubventionen for­ dern, weigert sich besonders Frank­ reich, das System zu ändern. Denn die französischen Bauern profitieren am meisten von den EU-Milliarden aus Brüssel. Premierminister Jean-Pierre Raffarin machte bereits in seiner er­ sten Regierungserklärung klar, dass Frankreich keinen Cent abgeben wer­ de. Der Streit droht nun das ohnehin nicht zum besten bestellte Verhältnis zwischen Paris und Berlin weiter zu belasten. Bis November wollen sich die EU-Staaten geeinigt haben. Kanzler Schröder jedenfalls liess bereits Kom­ promissbereitschaft erkennen. Er sei nicht bereit, «in irgendeiner Form zu akzeptieren, dass diese riesige Chance an kleinlicher Agrarmünze zerbricht». Allerdings - so machte er auch klar - müsse sich jeder bewegen. Dies Hal­ tung würde wohl auch ein Bundes­ kanzler Edmund Stoiber einnehmen. In Brüssel glaubt denn auch niemand so recht, dass der Zeitplan der Erweite­ rung an dieser Frage scheitern könnte. 
Ein ranghoher Diplomat jedenfalls würde «jede Wette eingehen, dass wir mit den Verhandlungen in Kopenha­ gen fertig werden». Gefahr von Zypern aus Seitens der Kandidatenstaaten droht die grösste Gefahr für die Erweiterung von Zypern. Verhandelt wird lediglich mit der Republik Zypern, dem griechi­ schen Südteil der geteilten Insel. Die EU ist bereit, nur diesen Teil in die EU aufzunehmen. " Andernfalls hat die griechische Regierung damit gedroht, die gesamte Erweiterung zu blockie­ ren. Die Türkei indes drohte unlängst damit, bei einer Aufnahme nur des südlichen Inselteils den Norden Zyp­ erns annektieren zu wollen. Entweder müssen also die bislang erfolglosen UN-Verhandlungen über die Zukunft der Insel bis Jahresende abgeschlossen sein. Oder aber die Tür­ kei muss ihren Widerstand aufgeben. Das Land ist offiziell zwar auch Bei- tritlskandidat der EU, aufgenommen wurden die Verhandlungen bislang aber nicht. Die Union könnte Ankara also als Gegenleistung eine konkretere 
Perspektive für den Beitritt geben. Da­ gegen wehrt sich allerdings besonders die deutsche Bundesregierung. Problemfall Irland Zum grössten Problem für die Er­ weiterung aber könnte Irland werden. Der 
Inselstaat hat den Vertrag von Nizza, der die EU-Institutionen fit für die Erweiterung macht, noch nicht ra­ tifiziert. Die irische Verfassung sieht dafür ein Referendum vor. Bei einer ersten Abstimmung im Juni vergange­ nen Jahres lehnten die Iren den Ver­ trag aus den unterschiedlichsten Gründen ab. Nun soll das Referendum wiederholt werden. Aus ranghohen Brüsseler Kreisen ist zu hören: «Das kann zu einem kom­ pletten Fiasko werden.» Denn wenn die Iren wieder nein sagen - was nach Umfragen nicht auszuschliessen ist -, dann stünde die EU vor einem Scher­ benhaufen. Einen Plan B, wie ein ne­ gatives Votum umgangen werden könnte, gibt es nach mehrfachen Be­ teuerungen auch von EU-Kommis­ sionspräsident Romano Prodi nicht. In Brüssel herrscht das Prinzip Hoffnung. Stoppen Iren die EU-Erweiterung auf Zielgeraden? Zweites Referendum über den Vertrag von Nizza im Oktober - Ausgang offen BRÜSSEL: Die für 2004 geplante EU- Erweiterung um zehn Staaten könnte auf der Zielgeraden von den Iren noch gestoppt werden. Im Oktober stimmt die Bevölkerung der grünen Insel zum zweiten Mal über den Ver­ trag von Nizza ab, der die EU-Insti- tutionen fit für die Aufnahme neuer Staaten machen soll. Im Juni vergangenen Jahres war der Vertrag bei einem ersten-Referendum in Irland aus den unterschiedlichsten Gründen durchgefallen, 54 Prozent der Wahlberechtigten hatten dagegen ge­ stimmt. Nizza-Vertrag massgebend Der bei dem EU-Gipfel von Nizza im Dezember 2000 ausgehandelte Vertrag gewichtet die Stimmen im Ministerrat und die Besetzung der EU-Kommission neu, damit die Institutionen nach der Aufnahme von bis zu zwölf Staaten handlungsfähig bleiben. Allerdings kritisierten EU-Vertreter das Vertrags­ werk bereits kurz nach 
dem Abschluss als ungenügend. Eine neue EU-Reform wird derzeit von einem Konvent unter Beteiligung der nationalen Parlamente und der Beitrittskandidaten in Brüssel 
vorbereitet. Beschlossen werden soll diese noch vor der Erweiterung Ende 2003. Für die Erweiterung ist aber zu­ nächst der Vertrag von Nizza massge­ bend. Damit er in Kraft tritt, muss er yon allen 15 EU-Staaten ratifiziert werden. Irland ist das einzige EU- Land, in dem dafür eine Volksabstim­ mung erforderlich ist. Der noch gel­ tende Amsterdamer EU-Vertrag von 1997 nimmt zwar ebenfalls Stellung zur Erweiterung, jedoch gilt er für die Aufnahme von zehn neuen Staaten als nicht ausreichend. Hoffen auf Zustimmung Sollten die Iren den Vertrag von Ni­ zza also ein zweites Mal ablehnen, wä­ re die Erweiterung zumindest formell blockiert. Denn bis Jahresende sollen die Verhandlungen mit den zehn am weitesten fortgeschrittenen Ländern abgeschlossen sein. Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern sollen dann nach Ratifizierung der Beitrittsverträge bis 2004 EU-Mit- glied sein. Voraussetzung 
ist aber, dass der Vertrag von Nizza zuvor in Kraft ist. 
Bislang beschränken sich die Ver­ antwortlichen in Brüssel darauf zu be­ tonen, dass sie auf die Zustimmung der Iren hoffen. Die Überwindung der Teilung Europas dürfe nicht verhindert werden, wird appelliert. In der Tat mag es seltsam klingen, dass rund 3,8 Mil­ lionen Iren die Zukunft von rund 75 Millionen Menschen in den zehn Staa­ ten bestimmen können. In Brüssel wird aber darauf verwiesen, dass eben dies Demokratie sei. Was aber passiert, wenn der Vertrag dennoch abgelehnt wird, wird von der EU nicht öffentlich kommentiert. Auf Spekulationen wolle man sich nicht einlassen, betonen EU- Vertreter. Kein Plan B vorhanden Einen Plan B, damit die Erweiterung bei einem zweiten Nein der Iren den­ noch planmässig erfolgen kann, gebe es jedenfalls nicht, betonte unlängst auch EU-Kommissionspräsident Ro­ mano Prodi. In Brüsseler Kreisen hiess es, dies könne man unter demokrati­ schen Gesichtspunkten auch kaum verständlich machen. Hinter vorgehal­ tener Hand heisst es aber, ein zweites Nein «kann zu einem kompletten Fias­ ko werden». 
Über die Gründe, warum die Iren den Vertrag ablehnten, kann indes nur spekuliert werden. Ministerpräsident Bertie Ahern gibt zu, dass die Regie­ rung sich nicht genügend für ein Ja eingesetzt habe, gelobte aber Besse­ rung. Ein Motiv für die Ablehnung, so vermutete die Regierung in Dublin, sei gewesen, dass in dem Vertrag auch das Ziel der EU nach einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik festgeschrieben ist. Garantie für Neutralität Die Iren, so die Analyse, fürchteten nun um ihre Unabhängigkeit. Deswe­ gen hat sich Ahern auf dem EU-Gipfel von Sevilla Ende Juni von den Staats­ und Regierungschefs die Garantie ge­ ben lassen, dass Irland nicht automa­ tisch an einem militärischen EU-Ein- satz teilnehmen müsse. Dass dies al­ lein aber den gewünschten Um­ schwung bringt, darf bezweifelt wer­ den. Ein Grund für den Ausgang der ersten Abstimmung war auch di? nied­ rige Beteiligung. Die Mobilisierung dürfte im Oktober eine grosse Rolle spielen, wobei sich viele Iren schon jettt fragen, warum das Referendum überhaupt wiederholt werden muss. 
Stichwort: , EU-Erweiterung BRÜSSEL: Auf lange Sicht sollen 13 ost- und südosteuropäische Länder Mitglied der Europäischen Union werden. Die Beitrittsver­ handlungen mit Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Slowe­ nien, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern sollen zum Jah­ resende abgeschlossen sein. Bis 2004 sollen diese Staaten Mitglied der Union sein. Rumänien und Bulgarien liegen in den Verhand­ lungen zurück, ein Beitritt ist für 2007 vorgesehen. Die Türkei ist ebenfalls Beitrittskan­ didat, mit ihr sind die Verhandlun­ gen aber noch nicht aufgenommen worden. Einen Zeitpunkt dafür gibt es nicht. 480 Millionen Menschen Mit dem Beitritt der zehn am wei­ testen fortgeschrittenen Länder wächst die Bevölkerung der EU auf rund 450 Millionen Menschen. Das mit Abstand grösste Land ist Polen mit fast 39 Millionen Menschen, was in etwa der Bevölkerung Spani­ ens entspricht. Das kleinste Land ist Malta mit einer Bevölkerung von 400 000 Menschen, in etwa so viele wie Luxemburg. Eine EU mit 27 Mit­ gliedern - also einschliesslich Bul­ garien und Rumänien - würde rund 480 Millionen Menschen umfassen, ein Plus von 29 Prozent. Der erwar­ tete Zuwachs des Bruttoinlandspro­ dukts beträgt dagegen nur neun Prozent. Das durchschnittliche BIP pro Einwohner würde sogar um 18 Prozent fallen. Mehrheit für Erweiterung Eine Mehrheit der EU-Bürger ist grundsätzlich für die Erweiterung. In einer EU-Umfrage vom Mai spra­ chen sich 44 Prozent dafür 
aus, dass der EU weitere Staaten beitreten sollten." 21 Prozent waren der An­ sicht, die Union solle alle Länder aufnehmen, die beitreten wollten. Nur 14 Prozent erklärten, die EU solle gar keine Staaten aufnehmen. Mit 83 Prozent beklagte eine über­ wiegende Mehrheit allerdings, nicht genug über die Erweiterung zu wis­ sen. Die EU-Kommission hat für ei­ ne Informationskampagne 250 Mil­ lionen Euro bereitgestellt. Mit ihrem Beitritt sind die zehn Staaten zunächst Mitglied der Eu­ ropäischen Union. Dies bedeutet nicht, dass sie automatisch auch an der Währungsunion teilnehmen und den Euro einführen können. Dazu müssen sie zunächst zwei Jahre am Europäischen Wechselkurssystem teilnehmen, um die Stabilität der ei­ genen Währung unter Beweis zu stellen. Im Anschluss daran muss ein Land die drei Maastricht^Kriteri- en erfüllen, bevor es den Euro ein­ führen kann. Auch am Schengen-System, das die Grenzkontrollen zwischen EU-, Staaten aufhebt, sind die neuen Mit­ glieder nicht automatisch beteiligt. Mit Ausnahme der Tschechischen Republik und der Inselstaaten Malta und Zypern bilden alle Kandidaten eine neue EU-Aussengrenze. Nächste EU-Reform bis 2004 Intern wollte sich die EU mit dem Vertrag von Nizza für die Aufnahme neuer Mitglieder fit machen. Dieser reformiert die EU-Institutionen so weit, dass die neuen Staaten inte­ griert werden können. Allerdings wurde der Vertrag vielfach als un­ genügend kritisiert. Deshalb tagt seit Februar ein EU-Konvent, der unter Beteiligung auch der nationa­ len Parlamente und der Beitrittskan­ didaten die nächste umfassende Re­ form der EU vorbereiten soll. Diese ist für spätestens 2004 geplant. Da­ mit der Vertrag von Nizza vorher in Kraft treten und die EU planmässig erweitert werden kann, muss er von allen 15 EU-Staaten ratifiziert wer­ den;
	        

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