Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2002)

Liechtensteiner VOLKSBLATT 
AUSLAND Mittwoch, 17. April 2002 
2 1 Erster Generalstreik seit 20 Jahren Generalstreik in Italien: Millionen von Menschen folgen Aufruf der Gewerkschaften ln\ge\amt fühlten nach licurrkscluiftuiiu/ubcii rund I I Millionen Italiener dem landesweiten Aufruf zum Generalstreik. 
ROM: Ein achtstündiger Gene­ ralstreik hat gestern das öffent­ liche Leben in Italien weitge­ hend lahm gelegt. Millionen von Menschen legten die Arbeit nie­ der. In zahlreichen Grossstädten fanden Protestzüge gegen die Reformpläne der Regierung statt. Allein in Hören/ folgten bis zu 400 000 Menschen dem Aufruf der drei grössten Gewerkschaften. Nach deren Angaben versammelten sich in der Wirtschaftsmetropole Mailand ulier i(l() 00(1 Demonstranten, in Rom und Bologna waren es jeweils rund 200 ()()(). In Turin gingen bis /u 1 '>() 000 Metischen auf die Strasse. In den sudlichen Stiidten Neapel und Pa­ lermo auf Sizilien demonstrierten je­ weils über 100 (100 Personen. Widersprüchliche Angaben Insgesamt folgten nach tiewerk- schaftsangaben rimd 1 i Millionen Ita­ liener dem landesweiten Aufruf /um Generalstreik. Der katholische Ge- werkschaftsverliand CISI zog Anga­ ben /uruck. dass bis /u 20 Millionen Arbeitnehmer dem Streikaufruf ge­ folgt seien. Der linksgerichtete Ge­ werkschaftsverband CGI!, und die Ar­ beitnehmervertretung Uli teilten da­ gegen mit. «HS Ins ')0 Prozent» der of­ fiziell knapp II Millionen italieni­ schen Arbeitnehmer hatten die Arbeit niedergelegt. Mehrere Grossunterneh­ men bezifferten die Streikbeteiligung wiederum auf zwischen 30 und 70 Prozent. i s war der erste Generalstreik in Ita­ lien seit 20 Jahren und der grösste Protest gegen die Regierung seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Sil­ vio Berlusconi im Juni 2001. Der Streik richtete sieh gegen die Pläne des Mitte-Rechts- Kabinetts, welche den Kündigungsschutz aufweichen wollen. Viele Arbeitnehmer befurchten, dass 
es dadurch zu Massenentlassungen kommen konnte. Kurswechsel gefordert C"(111 -C'hel Sergio ColTerati lorderte einen Kurswechsel der Regierung. «Das fand stellt still. Die Regierung muss ihre Richtung andern», sagte er in Hö­ ren/. Ihre Pläne würden die Schaffung neuer Arbeitsplätze fordern und die Konkurrenzfähigkeit italienischer Be­ triebe im Ausland steigern. Berlusconi will sieh jedoch dem Protest der Ge­ werkschaften nicht beugen und an sei­ nem bisherigen Kurs festhalten. Zu­ gleich bekräftigte er aber am Dienstag­ abend seine Bereitschaft zu einem so­ zialen Dialog. «Die Regierung ist bereit, zu Diskus­sionen 
an den Tisch zunickzukehren, aber sie beabsichtigt, den Weg der Re­ formen fortzusetzen», sagte Berlusconi vor Journalisten in Rom. Stillstand auf Flughäfen und Bahnhöfen Zwischen 10.00 und IM.00 Uhr MESZ blieben Bahnhofe und Flughä- l'en. Schulen und andere öffentliche hinrichtungcn weitgehend geschlos­ sen. Auf den F lughäfen von Mailand und Rom ging praktisch nichts mehr. In Rom waren lediglich ( > In- und IS Auslandflüge geplant. Die nationale Fluggesellschaft Alitalia annullierte landesweit 271 .von insgesamt i 74 I lügen. Nach Angaben der staatlichen Bahngesellschaft Irenitalia rollten von 
insgesamt 323 Zügen nur noch 170. Auch viele Journalisten waren in den Ausstand getreten. Es erschienen keine Tagesz.eitungen; Fernsehen und Radio sendeten nur Kurznachrichten. Auswirkungen auf die Schweiz Der Generalstreik wirkte sich auch auf die Schweiz auf. Im Tessin und auf der Nordseite des Gotthards waren Lastwagen blockiert, da der italieni­ sche Zoll in Chiasso-Brodega um 9.00 IJhr den Betrieb einstellte. Im Bahn­ verkehr wurden fast sämtliche Verbin­ dungen zwischen der Schweiz und Ita­ lien gestrichen. Die Reisenden mussten mehrstündige Verspätungen hinneh­ men. Die Fluggesellschaft Swiss sagte je sieben Hin- und Rückflüge ab. 
Terror-Verdächti­ ger freigelassen KARLSRUHF.: Einen Tag nach seiner Verhaftung wegen der Explosion in Tunesien ist ein in Duisburg festge­ nommener Verdächtiger gestern Nach­ mittag wieder freigelassen worden. Nach seiner Vernehmung und den übrigen bislang ausgewerteten Be­ weismitteln bestehe gegen ihn kein dringender Tatverdacht, teilte die Bun­ desanwaltschaft in Karlsruhe mit. Der Mann war am Montagabend festge­ nommen worden und wurde ansch­ liessend von Staatsanwälten der Behörde verhört. Die Bundesanwalt­ schaft habe die Ermittlungen nach ei­ nem Hinweis der tunesischen Behör­ den eingeleitet, nach dem der mutmas­ sliche Attentäter wenige Stunden vor dem Anschlag nach Deutschland tele­ foniert hat. Wörtlich hiess es in der Er­ klärung: «Die Hinweise, dass es sich bei dem Ereignis vom 11. April 2002 um einen I'erroranschlag handelt, ha­ ben sich weiter verdichtet.» Zur Auf­ klärung bedürfe es aber noch intensi­ ver Ermittlungen. Dabei arbeiteten deutsche und tunesische Sicherheits­ behörden eng zusammen. 
 1 Lebensmittel­ knappheit NAIROBI: Uber vier Millionen Men­ schen im südlichen Afrika droht eine Lehensmittclknappheit. Wie die Le­ bensmittel- und Landwirtschaftsor­ ganisation der UNO (FAO) erklärte, sei die Nahrungsmittelproduktion vor allem 
in Simbabwe, Malawi und Sambia dramatisch gesunken. Der Grund dafür sind Dürre oder Überflu­ tungen sowie krisenbedingte Unter­ brechungen in der Landwirtschaft an, hiess es in einem in der kenianischen Hauptstadt Nairobi veröffentlichten Bericht der FAO. Nach dem Bericht zur Situation der l.ebensmittelvorräte und Erntebedingungen im Afrika unterhalb der Sahara stehet) insge­ samt 19 Staaten vor einem «ausser- gewöhn liehen Nahrungsmittelnot- stand». Rücktritt kurz vor Neuwahlen Niederländische Regierung tritt wegen Srebrenica-Affäre zurück Dl N HAAG: Die niederländische Re­ gierung ist gestern wegen der um­ strittenen Rolle niederländischer Blauhelm-Soldaten bei dem Massa­ ker im bosnischen Srebrenica 1995 zurückgetreten. Der Rücktritt erfolgt kurz vor den Neuwahlen. Der Entscheid war nach einer stunden­ langen Krisensitzung des Kabinetts in Den Haag gefallen. Ministerpräsident Wim Kok bot Königin Beatrix den Rücktritt aller Minister und Staatsse­ kretäre an und wollte spater noch dem Parlament die Entscheidung erläutern. Die Monarchin bat die Minister, im Amt zu bleiben, bis eine neue Regie­ rung gebildet ist. Der Rücktritt dürfte keine grösseren politischen Folgen ha­ben, 
[la die Niederlander am 15. Mai ohnehin ein neues Parlament wählen. Kok will nicht mehr antreten. Die Koalitionsregierung aus sozial­ demokratischer Partei der Arbeit (PvdA), Liberalen (WD) und Linksli­ beralen (D6(>) war die neunte in den Niederlanden, die seit Ende des Zwei­ ten Weltkriegs ihre Amtszeit nicht uberstanden hat. Sie war seit 1994 die zweite Regierung dieser Kombination unter Kok. «Ein ungewöhnlicher Rücktritt» «Dies ist ein ungewöhnlicher Ruck­ tritt - es gab keinen Konllikt in der Re­ gierung und keinen Konflikt der Re­ gierung mit dem Parlament», sagte ein Kommentator gestern im 
niederländi- Wim Kok verlässt das Parlament: Die Niederländische Regierung trat gestern zurück. (Bilder: Keystonc) 
sehen Radio. Aber es wurden auch kei­ ne Bemühungen bekannt, den Bruch in praktisch letzter Koalitionsstunde zu verhindern. «Die Zusammenarbeit in der Koalition hat eben schon vorher gewackelt», meinte Hans Wiegel, Ex- Minister, Ehrenvorsitzender der Libe­ ralen und Senior der politischen Szene in Den Haag. Die ursprünglich erst für Freitag angesetzte Kabinettsberatung war vorgezogen worden, nachdem es bereits Gerüchte über einen mögliehen Rücktritt der Minister für Verteidigung und für Umwelt, Frank de Grave und Jan Pronk, gegeben hatte. Bericht zu Srebrenica Das Kabinett befasste sich in seiner Krisensitzung mit einem Bericht, den das niederländische Institut für Kriegs­ dokumentation in der letzten Woche veröffentlicht hatte. Die Verfasser wa­ ren zu dem Schluss gekommen, dass politischer Ehrgeiz die Niederlande da­ zu gebracht habe, sich auf eine unkla­ re und praktisch nicht durchführbare Friedensmission in Bosnien einzulas­ sen. Im Juli 1995 hatten bosnisch-serbi- sche Soldaten die UNO- Schutzzone um Srebrenica eingenommen und dabei vermuilich mehr als 7500 Moslems um­ gebracht. Den niederländischen Blau­ helm-Soldaten war wiederholt vorge­ worfen worden, das Massaker tatenlos mitangesehen zu haben. Der Bericht hält aber in erheblichem Mass die Re­ gierung und Militärangehörige verant­ wortlich, die das UNÖ-Mandat eilfertig angenommen hatten. Die Hauptschuld an dem Massaker trägt demnach der bosnisch-serbische General Ratko Mla- dic, der die Truppen befehligte. 
Fortschritte für Waffenstillstand Nahost-Konflikt: UNRWA verteilt Lebensmittel JERUSALEM: US-Aussenminister Co­ lin Powell sieht kurz vor Abschluss seiner Nahost-Mission Fortschritte für einen Waffenstillstand. Im Flüchtlingslager Dschenin begann die UNO mit der Verteilung von Lebens­ mitteln und Wasser. Wegen des stockenden Rückzugs der israelischen Armee aus den palästi­ nensischen Städten zögen sich die Verhandlungen über ein Waffenstill­ standsabkommen in die Länge, sagten US-Vertreter. Powell wird seine Nah- ost-Mission voraussichtlich am Mitt­ woch abschliessen. Davor will er wie­ der mit dem ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak sprechen. Auch mit dem palästinensischen Präsidenten Jassir Arafat ist ein zweites Treffen ge­ plant. Arafat will Dringlichkeitssitzung Arafat forderte gestern eine Dring-' lichkeitssitzung der Organisation der Islamischen Konferenz (01C). Dort soll über die «israelische Aggression» und die Reaktion der arabischen Staaten beraten werden. Der israelische Minis­ terpräsident Ariel Scharon sagte dem israelischen TV-Kanal 10, er hoffe, dass die von ihm angeregte Friedens­ konferenz bereits im Juni beginnen kann. Sollte diese auf Ebene von Staats- und Regierungschefs stattfin­ den, würde er selbst daran teilnehmen. . Die USA gab derweil bekannt, dass sie die Entsendung einer internationa­ len Friedenstruppe in den Nahen Osten vorerst ablehnen. Diese Idee sei «nicht 
auf dem Radarschirm», sagte LJS-Si- cherheitsberaterin Condoleezza Rice der «Süddeutschen Zeitung». Scharon hatte zwar am Montag den Abzug der Armee aus den meisten be­ setzten Städten im Westjordanland binnen einer .Woche in Aussicht ge­ stellt. Trotzdem rückte gestern die is­ raelische Armee nach Tulkarem ein. Sie zog sich erst nach Stunden wieder zurück. In Bethlehem besetzten israeli­ sche Soldaten ein Hotel, in dem sich auch Journalisten aus der ganzen Welt aufhielten. Um die seit Tagen belager­ te Gebunskirche kam es gestern Abend zu längeren Schiessereien. In Hebron wurde ein Palästinenser von israelischen Soldaten erschossen. «Wie nach einem Erdbeben» Schwere Vorwürfe gegen das Vor­ gehen Israels im Flüchtlingslager von Dschenin erhoben das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und die Menschenrechtsorganisation Atn- nesty International (ai). ai rief den UNO-Sicherheitsrat auf, eine unab­ hängige Untersuchung von Men- schenrechtsverstössen einzuleiten. Nach Angaben des IKRK sieht es im Lager von Dschenin nach tagelangen Kämpfen aus wie nach einem Erdbe­ ben. Unter den Trümmern befanden sich noch Überlebende, sagte UNR- WA-Sprechcr Rene Aquarone. Nötig seien Räumgeräte für Katastro­ pheneinsätze. Das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNR­ WA) konnte am Dienstag 
20 Tonnen Lebensmittel und Wasser nach Dschenin bringen.
	        

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