36 Donnerstag, 14. Dezember 2000
AUSLAND
Liechtensteiner VOLKSBLATT
Individualrechtsschutz und Grundrechte
Sind die allgemeinen Prinzipien des EU-Rechts für den EWR relevant? - Beitrag von Dr. Carl Baudenbacher
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i)
Dr. Carl Baudenbacher, Liechtensteins Richter am EFTA-Gerichtshof.
Was hat die junge nor
wegische Staatsbürgerin
Veronika Finanger mit
der im Titel dieses Bei
trags gestellten Frage zu
tun? Einiges, wie zu zei
gen sein wird. Frau
Finanger war als Beifah
rerin eines alkoholisierten
Autofahrers bei einem
Unfall schwer verletzt
worden und ist seither ar
beitsunfähig.
Dr. Carl Baudenbacher,
Richter am EFTA-Gerichtshof
Die Haftpflichtversicherung des
Fahrers lehnte jede Zahlung
unter Hinweis auf die norwegi
sche Rechtslage ab. Das nor
wegische Recht bestimmt, dass
die Haftpflicht entfallt, wenn
der Beifahrer/die Beifahrerin
wusste oder wissen musste,
dass der Fahrer/die Fahrerin al
koholisiert und die Alkoholisie
rung für den Unfall kausal war.
Das zuständige Appellations
gericht sah die norwegische
Regelung als mit dem EWR-
Recht unvereinbar an und
sprach Frau Finanger Ersatz zu,
reduzierte diesen aber wegen
Selbstverschuldens auf 70 %.
Die Versicherungsgesellschaft
zog den Fall an den Obersten
Gerichtshof weiter, welcher
dem EFTA-Gerichtshof die Fra
ge zur Vorabentscheidung vor
legte, ob das norwegische
Recht in diesem Punkt mit dem
EWR-Recht im Einklang steht.
Der EFTA-GH entschied am 17.
November 1999, das sei nicht
der Fall. Aufgrund der sog. Mo
torfahrzeugversicherungsricht
linien müssten Unfallopfer
überall im EWR eine vergleich
bare Behandlung erhalten. Die
Mehrzahl der 18 EWR-Staaten
stelle Unfallopfer aber wesent
lich besser als Norwegen. Über
dies sei die norwegische Rege
lung auch geeignet, den freien
Verkehr mit Automobilen und
den freien Personenverkehr zu
behindern.
Trotzdem wies der Oberste
Gerichtshof Norwegens in sei
nem Urteil vom 16. November
2000 die Klage Veronika Finan-
gers ab. Er betonte zwar aus
drücklich, dass er dem Spruch
des EFTA-Gerichtshofs zustim
me und dass Norwegen das
EWR-Abkommen verletzte. In
des sei er nicht in der Lage, sich
unter Berufung auf EWR-Recht
über das insoweit klare natio
nale Recht hinwegzusetzen.
Das heisst im Klartext, dass der
Oberste Gerichtshof den Ball
dem norwegischen Gesetzgeber
zugespielt hat. Der wird allen
falls für die Zukunft Ab
hilfe schaffen. Veronika
Finanger ist hingegen leer aus
gegangen.
Heikle Drittwirkung von
Richtlinien
Im internationalen Recht und
im EU-Recht wird die skizzierte
Konstellation unter dem Stich
wort der Direktwirkung abge
handelt. Das norwegische
Höchstgericht hat sich gegen
die Direktwirkung der fragli
chen Bestimmungen der Mo
torfahrzeugversicherungsricht
linien ausgesprochen. Die Klä
gerin konnte sich gegenüber
widersprüchlichem nationalem
Recht nicht auf die Richtlinien
berufen. Allerdings wurde das
Urteil nicht einstimmig, son
dern mit 10 :5 Stimmen gefällt.
Die fünf Minderheitsrichter,
unter ihnen der Präsident
(Chief Justice) sprachen sich
dafür aus, im Wege der völker
rechtskonformen Auslegung
die fragliche Vorschrift des
norwegischen Haftpflichtrechts
unangewendet zu lassen. Der
Grundsatz der völkerrechtskon-
formen Auslegung geht nicht
so weit wie das Prinzip der
Drittwirkung. Die Gerichte er
reichen damit aber in vielen
Fällen ähnliche Resultate.
Im EU-Recht hat der EG-Ge
richtshof bereits in den siebzi
ger Jahren entschieden, dass
Richtlinienbestimmungen der
direkten Wirkung fähig sind.
Private und Unternehmen kön
nen sich allerdings nur inso
weit auf Richtlinien berufen,
als diese das vertikale Verhält
nis Staat-Bürger betreffen. Im
hier diskutierten Fall, in dem es
um das horizontale Verhältnis
Versicherter - Versicherer ging,
wäre aufgrund der bisherigen
Rechtsprechung des EG-Ge
richtshofs wohl auch im EU-
Recht keine Drittwirkung ange
nommen worden. Man kann in
der Tat argumentieren, es
sei nicht die Schuld der Versi
cherungsgesellschaft, wenn
ein Gesetzgeber europäisches
Richtlinienrecht nicht oder
falsch umgesetzt hat. In einem
grösseren Zusammenhang geht
es bei den hier besprochenen
Problemen um die Frage, ob
sich das im EWR-Recht zentra
le Gebot der homogenen
Rechtsanwendung auch auf
sog. Allgemeine Rechts
grundsätze bezieht, welche der
EG-Gerichtshof ausserhalb des
geschriebenen Rechts aner
kannt hat. Bekanntlich sollen
Bestimmungen des EWR-
Rechts, soweit sie mit Bestim-
7 1
mungen des EU-Rechts iden-,
tisch sind, im Einklang mit der
Rechtsprechung des EG-Ge
richtshofs ausgelegt werden.
Der EFTA-Gerichtshof hat bis
lang nicht entschieden, dass die
EU-rechtlichen Prinzipien der
Direktwirkung und des Vor
rangs des Gemeinschaftsrechts
vor konfligierendem nationa
lem Recht auch im EWR-Recht
Anwendung finden müssen.
Der Ordnung halber ist aber
festzuhalten, dass sich deshalb
mit Bezug auf das EWR-Haupt-
abkommen keine praktischen
Probleme ergeben. Die nordi
schen Staaten, welche dem
Vorrang und der Direktwirkung
aus verfassungsrechtlichen
Gründen ablehnend gegen
überstehen, haben das Haupt
abkommen nämlich durch be
sondere Erlasse in das natio
nale Recht übernommen. Ent
sprechendes gilt für (korrekt)
umgesetzte Richtlinien.
Staatshaftung im EWR
Im Fall der isländischen Ar
beitnehmerin Erla Maria
Sveinbjörnsdöttir hat der EF
TA-GH ein Jahr vor Finanger
entschieden, dass das Prinzip
der Staatshaftung Teil des
EWR-Rechts ist. Island hatte
die Zahlungsunfähigkeitsricht
linie falsch umgesetzt, und
Frau Sveinbjörnsdöttir war
deshalb zu Schaden gekom
men. Der EFTA-Gerichtshof
entschied, dass der Staat seinen
Bürgern schadenersatzpflichtig
wird, wenn die von ihm ver
letzte Vorschrift des EWR-
Rechts den Einzelnen identifi
zierbare Rechte verleiht, die
Rechtsverletzung gravierend ist
und zwischen der Verletzung
und dem Schaden ein Kausal
zusammenhang besteht. Der
Oberste Gerichtshof Islands sah
diese Voraussetzungen in der
Folge als gegeben an und ge
währte Frau Sveinbjörnsdöttir
Schadenersatz. Gestützt auf
diese Rechtsprechung könnte
auch Veronika Finanger noch
zu ihrem Recht kommen, wobei
die Zahlung nicht aus der Ta
sche des Versicherers, sondern
aus der des Staates käme.
(Archivbild)
Bei der Frage, ob die Prinzi
pien Vorrang, Direktwirkung
und Staatshaftung Teil des
EWR-Rechts sind, geht es nicht
nur um den Individualrechts
schutz von Bürgern und Unter
nehmen aus den EWR/EFTA-
Staaten. Man muss vielmehr
die Zwei-Pfeiler-Struktur des
EWR im Auge behalten. Den
Bürgern und Unternehmen der
EWR/EFTA-Staaten steht die
Möglichkeit, vor den Gerichten
der EU-Mitgliedstaaten zu kla
gen und sich auf EU-Recht di
rekt zu berufen oder Schaden
ersatz geltend zu machen, seit
Inkrafttreten des EWR-Abkom-
mens offen. Das Abkommen
fusst auf der Annahme, dass
die EFTA Gegenrecht hält. Soll
te das nicht der Fall sein, so
müsste man von judiziellen
Handelshemmnissen sprechen.
Grundrechtsschutz
Der Europäische Gerichtshof
hat nach anfänglichem Zögern
die in den Verfassungen der
EG-Staaten verankerten Grund
rechte als integrierenden Be
standteil des Gemeinschafts-
rechts anerkannt und in seiner
Rechtsprechung auch auf die
Europäische Menschenrechts
konvention und die dazu er
gangene Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte Bezug genom
men. Der EFTA-Gerichtshof ist
dem bei den ersten sich bieten
den Gelegenheiten gefolgt. Im
Fall Scottish Salmon Growers
urteilte er, dass ein Beschwer
deführer Anspruch auf eine be
gründete Entscheidung der EF-
TA-Überwachungsbehörde ESA
hat. Im Fall TV 1000 bezog
sich der EFTA-Gerichtshof auf
die in Art. 10 der Europäischen
Menschenrechtskonvention
verankerte Meinungsfreiheit
und stützte sich hinsichtlich
der Schranken dieser Freiheit
auf die Rechtsprechung des Eu
ropäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte. Den norwegi
schen Behörden wurde gestützt
darauf das Recht zugestanden,
Fernsehsendungen mit mani
fest pornographischem Inhalt,
die aus Schweden nach Norwe
gen ausgestrahlt wurden, zu
untersagen.
Die im Titel gestellte Frage
muss nach dem Gesagten diffe
renziert beantwortet werden.
Soweit es um die vom EG-Ge
richtshof entwickelten
Grundsätze Direktwirkung,
Vorrang und Staatshaftung
geht, sind die Ergebnisse im
EFTA-Pfeiler des EWR nicht
signifikant schlechter als im
EG-Pfeiler. Zwar ist die Frage
der vertikalen Drittwirkung
von Richtlinien, welche nicht
oder falsch in das nationale
Recht umgesetzt wurden, nicht
gelöst. Man darf aber auch
nicht übersehen, dass der islän
dische Oberste Gerichtshof im
Fall Sveinbjörnsdöttir effektiv
Schadenersatz gewährt hat.
Viele Gerichte von EU-Mit
gliedstaaten haben sich in ähn
lichen Fällen weitaus weniger
grosszügig gezeigt.
So hat z.B. eine französische
Brauerei, die infolge des EG-
vertragswidrigen deutschen
Reinheitsgebots am Export ih
res Biers nach Deutschland ge
hindert war, von den deutschen
Gerichten keinen Pfennig zuge
sprochen erhalten. Im Bereich
der Grundrechte sollten sich
angesichts der Verfassungstra-
ditionen der EWR/EFTA-Staa
ten auch nach der Annahme
des Grundrechtskatalogs durch
den EU-Gipfel von Nizza keine
grösseren Probleme ergeben.
Der EFTA-Gerichtshof hat inso
weit vor allem im Fall TV 1000
die Richtung angezeigt.
Temelin
überprüfen
Im Streit um Sicherheit und
Umweltverträglichkeit des
tschech ischett Atomk raftwerks.
Temelin haben sich Österreich
und Tschechien auf einen
Kompromiss geeinigt. Unter
EU-Aufsicht soll das Gefah
renpotenzial des Werfcs über
prüft werden. Dies vereinbar
ten der österreichische Bundes
kanzler Wolf gang Schüssel
und der Prager Regierungschef
Milos Zeman in der Nacht zum
Mittwoch im österreichischen
Melk. Der Sicherheilscheck
soll spätestens im Juni 200]
abgeschlossen sein. Österreich
hatte wegen Sicherheitsbeden
ken gegen das Atomkraftwerk
sowjetischer Bauart sogar die
EU-Beitrittsgespräche mit
Tschechien in Frage gestellt,
sollte das Land seine bisher
unnachgiebige Haltung beibe
halten.
Proteste gegen Haider-
Besuch beim Papst
Treffen ist für Samstag geplant
ROM: Mit scharfen Protesten
haben Sprecher jüdischer Or
ganisationen auf den bevor
stehenden Besuch des öster
reichischen Rechtspopulisten
Jörg Haider im Vatikan rea
giert. Das Treffen mit Papst
Johannes Paul II. ist an diesem
Samstag vorgesehen.
Dabei will der Landeshaupt
mann von Kärnten offiziell
dem Vatikan einen 33 Meter
hohen Weihnachtsbaum schen
ken. Die Tanne aus der Kärnte
ner Gemeinde Gurk ziert bereits
den Petersplatz. Aus Furcht vor
Übergriffen werde der Baum
rund um die Uhr von Sicher
heitskräften bewacht, berichte
ten italienische Zeitungen am
Mittwoch. «Haider versucht,
die moralische Legitimierung
des Papstes zu erhalten», pro
testiert Leone Paserman, Präsi
dent der Jüdischen Gemeinde
in Rom. Die römischen Juden
seien verbittert und enttäuscht.
«Ohne Zweifel wird Haider
diese Gelegenheit ergreifen
und für etwas nutzen, was we
nig mit weihnachtlicher Stim
mung zu tun hat.» Sprecher an
derer jüdischer Gruppen kriti
sierten, Haider stehe für Aus
länderfeindlichkeit und Rassis
mus.
Dass der Weihnachtsbaum
für den Petersplatz in diesem
Jahr aus Kärnten kommt, sei
allerdings bereits vor drei Jah
ren festgelegt worden.