36 Freitag, 1. Dezember 2000
CARITAS
Liechtensteiner VOLKSBLATT
Das kleine Wunder von Haiti
Caritas Schweiz hilft Notleidenden in Haiti
Die Menschenrechte wur
den in Haiti seit jeher mit
Füssen getreten. Und seit
jeher war Haiti arm. Ein
hoher Anteil der Bevölke
rung musste emigrieren.
Doch seit dem Embargo,
das nach dem Militär
putsch vor acht Jahren
über die Insel verhängt
wurde (27 000 km2, rund
6 Mio. Einwohner) ist
Haiti das ärmste Land der
Welt. Wirtschaft, Touris
mus, Export, Stromerzeu
gung sind zusammenge
brochen. Die Arbeitslosig
keit beträgt über 50 Pro
zent. Jedoch mitten in
diesem Notstand können
beinahe alle gehörlosen
Kinder des Landes dank
dem Einsatz einer Schwe
stern-Kongregation, die
Schule besuchen und eine
Ausbildung erhalten.
Karl Gähwyler
Das «Institut Monfort für taub
stumme Kinder» befindet sich
in einem der heruntergekom
menen Quartiere, wie sie für die
Hauptstadt Port-au-Prince ty
pisch sind. Lärm und Unrat in
den engen, von fliegenden
Händlern gesäumten Strassen,
dahinter Bruchbuden. Der in
formelle Markt ist praktisch die
einzige Überlebensmöglichkeit
der Armen, und die machen
rund 80 Prozent der Millionen
stadt aus.
Die Direktorin, Schwester Rose-
Andree Fi£vre (51), eine Haitia
nerin mit natürlichem Charme
und Autorität, begleitet mich
Kinder mit einem kleinen Gehörrest profitieren von Verstärkeranlagen. (Bilder: Karl Gähwyler)
Mundarbeit vor der Spiegel: der
mühsame Kampf um den ersten
gesprochenen Laut.
durch das ausgedehnte Areal,
das der Kongregation vor gut
20 Jahren von französischen
Schulbrüdern zur Verfügung
gestellt worden war.
«Das erste Gebäude, das wir da
mals vom Bischof zugewiesen
erhielten, war bald der grossen
Anfrage nicht gewachsen», er
klärt Schwester Rose-Andr^e,
die in Frankreich ein Diplom
für die Taubstummenausbil
dung erwarb. «Wir wandten
uns dann an kirchliche Hilfsor
ganisationen und baten sie um
Unterstützung unseres Bauvor
habens. Unter ihnen befand
sich auch die Caritas Schweiz,
die uns sehr geholfen hat.»
Unterricht für 376 Kinder
Auch jetzt ist jeder Winkel
ausgenützt. Die dreistöckigen
Gebäude sind zweckmässig,
blitzsauber, jeder Luxus fehlt.
Man spürt das pulsierende Le
ben der 376 Kinder von denen
hier, wie in den anderen Insti
tuten von Cap Haitien und St.
Marc, die später gebaut wur
den, rund ein Drittel intern lebt.
Da sich der Unterricht über den
ganzen Tag erstreckt, erhalten
alle Kinder ein Mittagessen.
In den hellen Schulzimmern
wird fleissig gearbeitet. Über
die Motivation und Aufmerk
samkeit der Kinder würde sich
wohl jeder schweizerische Leh
rer freuen. Es wird geschrieben,
gezeichnet, an der Wandtafel
gerechnet. Der einzig auffallen
de Unterschied zu einem nor
malen Schulbetrieb besteht
darin, dass die Kinder konzen
triert auf den Mund der Lehre
rin blicken, die die Worte fast
überdeutlich mit den Lippen ar
tikuliert. Die Kinder versuchen
das «gesehene» Wort ebenso
deutlich wiederzugeben. Die
kleinen «Turnübungen» mit den
Lippen und die etwas gepresst
klingende, doch klar verständ
liche Aussprache lassen die
enorme Geduld vergessen, die
von der Lehrerin, wie vom Kind
für diese erstaunliche Leistung
aufgebracht werden musste.
Für eine verbesserte gegenseiti
ge Kontrolle gibt es Spiegel, in
denen sich Lehrerin und
Schüler sehen. Die wenigen
Kinder mit einem Gehörrest
profitieren für die ersten
Sprechübungen von einer Ver
stärkeranlage.
Auf dem Gang zu den höhe
ren Klassen schildert Schwester
Direktorin das Ziel der Schule.
«Wir wollen jedes Kind, das
unser Institut durchläuft, so
weit unabhängig machen, dass
es einen Beruf lernen kann.
Auch wenn das Kind vielleicht
nicht sehr intelligent ist, auch
wenn es nicht sehr gut spre
chen kann, hat es Augen und
Hände, eine gewisse Geschick
lichkeit und Intelligenz: es
kann einen Beruf lernen.»
Und dann weist sie auf ein
Die Direktorin: Schwester Ro-
se-Andree Fievre dankt für die
Hilfe der Caritas.
Faktum, das den hohen Ausbil
dungsgrad bestätigt: «Wir haben
immer wieder Jugendliche, die
dank unserer Vorbereitung, die
die staatliche Maturitätsprüfung
ablegen und somit die Univer
sitätsreife erlangen. - In der die
sjährigen Abschlussklasse gibt
es eine Gruppe, die die Informa
tik lernen will.» Man kann im
Institut selber eine Lehre absol
vieren. Die jüngste «Lehrstelle»
ist die Buchbinderei, wo der
ehemalige Schüler, Bernhard,
nach einer Ausbildung in
Frankreich die Leitung inne hat.
Die zahlreichsten Lehrlinge
hat das Herren Schneiderate
lier. Im Damen Atelier entwirft
eine Gruppe zukünftiger
Schneiderinnen moderne
Schnittmuster.
Es gibt auch eine Drechslerei
und eine metall- und eine holz
verarbeitende Werkstatt.
Grosse Pause vor dem Mitta
gessen. Der - nicht sehr grosse
- Pausenplatz füllt sich mit
springenden, hüpfenden, la
chenden, spielenden Kindern.
Auf langen Bänken entlang den
Wänden sitzen die älteren
Mädchen mit ihren Schulheften
und lernen oder unterhalten
sich.
Es ist eine frohe Szene, die
Kinder sind glücklich. Nur ei
nes fehlt: das übliche Kinderge
schrei auf dem Pausenplatz. In
aller «Normalität» spürt man
das harte Schicksal dieser Kin
der.
Schwester Rose-Andr£e
spricht über das Schulgeld:
«Diese Kinder gehören zur ärm
sten Bevölkerungsschicht. Wir
erheben kein vorgeschriebenes
Schulgeld. Wir verlangen nur
das, was gezahlt werden kann.
ist knapp der zwanzigste Teil
unserer effektiven Auslagen.»
Kommunikation mit der
Umwelt
In ihrem bescheidenen Büro
weist mich Schwester Rose-
Andr£e auf die eigentliche Be
deutung des Institutes.
«Ein taubes Kind ist so
schwer behindert, dass die
Schule die elementarste Funk
tion der Familie übernehmen
muss. Ein Kind, das hören
kann, ist seit seiner Geburt
durch das Gehör in die Familie
eingebunden; es kommuniziert
mit den Menschen, die um das
Kind sind, auch wenn es noch
nicht Antwort geben kann.
Der Taube_ muss durch das
Lernen in die Welt der Hören
den eingeführt werden. Er muss
also lernen, dass zwischen dem,
was er sieht und dem, was er
nicht hört, dem Wort eine Ver
bindung besteht.
Man beginnt mit dem Ele
mentarsten, mit den Wörtern
«Mama» und «Papa» und zeigt,
dass es zwischen dem geschrie
benen Wort und den Eltern eine
nicht zählt, keine wirkliche Be
lastung ist.»
Wir waren soeben in einem
grossen Zimmer im hintersten
Teil der Schule gewesen: im
Zimmer der sechs Unglücklich
sten. Es sind Kinder, die blind
und taub sind. Das Institut
bemüht sich, für sie ein beson
deres Heim zu errichten. Ein
Mädchen von etwa acht Jahren
hatte offenbar gespürt, dass da
jemand zusätzlich ins Zimmer
kam. Es bewegte den Kopf su
chend hin und her. Es kam mir
vor, als ob eine gefesselte Seele
eine Beziehung herstellen
möchte. Die Schwester strich
ihm liebevoll über die Wange
und das Kind drückte spontan
die Schwesterhand gegen sein
Gesicht. Es kam mir vor, wie ei
ne sprachlose, aber tiefe Dan
kesbezeugung.
Abschliessend dankt Schwe
ster Rose-Andr£e selber. «Ich
möchte mich herzlich bei den
Spendern der Caritas Schweiz
bedanken. Dank ihrer Hilfe
konnten wir unsere drei Zen
tren bauen und den Betrieb
aufrecht halten. Und noch et-
Durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch ist der grösste Teil
der Bevölkerung total verarmt.
Verbindung gibt. Das Kind
lernt, dass Wörter «enttauben»
können, das heisst, der sicht-
und greifbaren Welt eine Be
deutung geben. Damit über
windet das Kind langsam die
Barriere des Stummseins.»
Auf die Frage, ob sie in ihrer
Tätigkeit glücklich ist, antwor
tet die Leiterin: «Ja, ich bin sehr
was: die Jahre des Embargos
haben die Armen furchtbar ge
troffen. So baten wir die Caritas
um die Errichtung einer Kanti
ne. Drei Jahre lang konnten wir
jeden Mittag 350 ärmsten Kin
dern aus dem benachbarten
Elendsquartier ein Mittagessen
bereiten! Wir vergessen das
nicht I»
Es gibt verschiedene Lehrwerkstätten. In dieser wird Metall verarbeitet.
Die Kinder stammen vor allem aus der ärmsten Bevölkerungsschicht.
Das tut der Fröhlichkeit keinen Abbruch.
Es gibt Eltern, die pro Monat
(umgerechnet) 40 Rappen zah
len, andere einen oder zwei
Franken. Wieder andere geben
uns einige Kartoffeln, Tomaten
oder einen Salat aus ihrem klei
nen Garten. Natürlich sind un
sere Ausgaben sehr hoch. Aus
ser dem Essen ist qualifiziertes
Ausbildungspersonal nötig,
dann spezielles Schulmaterial,
besondere Apparate. Das, was
uns die Eltern geben können,
glücklichl Welche Freude ist es,
wenn man das erste Mal aus
dem Mund eines taubstummen
Kindes die Worte «Papa» oder
«Mama» hört, oder auch Worte
wie «Dank», «guten Tag». Und
wenn man beobachtet, wie die
Kinder zu lesen und zu schrei
ben beginnen: das ist eine
Freude, die das Herz erfüllt,
und dann erlebt man auch, dass
die viele Geduld und Mühe, die
man aufwendet, eigentlich gar
Not hat viele
Gesichter
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