Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2000)

4 Montag, 27. November 2000 
LAND UND LEUTE 
Liechtensteiner VOLKSBLATT 
Kultur als Quelle für die Allgemeinheit 
Eingangsreferat von Iso Camartin zum Thema «Kultur oder die erneuerbare Lebensenergie» 
Iso Camartin hielt zur 
Eröffnung des Kulturkon 
gresses ein viel beachtetes 
Referat zum Thema «Kul 
tur oder die erneuerbare 
Lebensenergie». Damit 
stellte er einen erweiter 
ten Kulturbegriff auf. Sei 
ne These, Kultur sei all 
das, was uns dazu bringe, 
die Wirklichkeit gestei 
gert wahrzunehmen, be 
legte er sowohl mit philo 
sophischen «Ausflügen» 
wie auch mit konkreten 
Beispielen. 
Gerolf Hauser 
Camartin, 1944 in Chur gebo 
ren, studierte Philosophie und 
Romanistik, hatte Professuren 
an verschiedenen Hochschulen 
in Europa und den USA, ist 
Mitglied bzw. Präsident einer 
Reihe wissenschaftlicher und 
kultureller Gremien. Seit 1998 
ist er freischaffender Publizist 
und Autor und Leiter des Be 
reichs Kultur beim SF DRS. 
Kultur gehört allen 
Es seine keine schlechten 
Zeiten für die Kultur im Augen 
blick, begann er sein Referat. 
Zum einen seien die 
Berührungsängste zwischen 
Wirtschaft und Kultur über 
wunden. «Heute wird die Wirt 
schaft nicht als eine Gegnerin 
der Kultur angesehen. Geld ist 
nicht der Teufel in der Kultur. 
Geld ist eine der ganz entschei 
denden Voraussetzungen, um 
Kultur überhaupt entdecken zu 
können.» Zum anderen sei 
Kunst und Kultur aus der Ni 
sche der Spezialisten herausge 
treten. «Kultur ist heute nicht 
mehr ein Reich der seltsamen 
verschrobenen Artisten, es ist 
nicht mehr ein Turm, in den 
man sich zurückzieht, keine 
Gegenwelt. Kultur ist ein Ge 
staltungsprinzip unserer Welt. 
Und deshalb ist so wichtig zu 
wissen, dass Kultur so etwas ist 
wie ein demokratisches Recht. 
Kultur gehört nicht einer klei 
nen Gruppe von Menschen, die 
sich besonders qualifiziert hat, 
Die Kongressteilnehmer lauschten erwartungsvoll den Referenten. 
mit Kultur umzugehen. Kultur 
ist etwas, was einen Erfah 
rungsbereich betrifft, der allen 
Menschen zukommt.» 
Homo ludens 
Was Kultur denn eigentlich 
sei, fragte Camartin. Ein Muse 
um, eine Partitur? «Oder ist 
Kultur etwas völlig anderes, et 
was, was wir noch nicht richtig 
entdeckt haben? Meine These 
ist: Alles ist Kultur, was uns da 
zu bringt, die Wirklichkeit ge 
steigert wahrzunehmen.» Bei 
seinem Exkurs über die Suche 
der Philosophen nach den die 
Entwicklung entscheidenden 
Grundtrieben des Menschen, 
kam er vom Jäger und Samm 
ler, dem Grundbedürfnis des 
Sich-Absicherns, dem Wunsch 
nach Neugestaltung der Welt 
und der Ökonomie als Triebfe 
der schliesslich zum Menschen 
als «Brückenbauer, der die Ma 
terie umschafft» und zum homo 
ludens. «Ist Kunst nicht ein 
spielerisches Suchen nach an 
deren Möglichkeiten. Vielleicht 
Die Künstler stellten dagegen, 
dass sie mit Kultur die Welt 
aufregender machen, die Welt 
verändern wollten. «Wir wollen 
auch schockieren, wir wollen 
eine andere Welt, als jene, die 
da ist. Wir sind nicht da, um die 
Welt zu bestätigen, sie zu ver 
klären, sie mit Ornamenten zu 
verzieren.» Heute, so Camartin, 
wüssten wir, dass nicht die Phi 
losophen, sondern die Künstler 
(Bilder: bak) 
tel für die Politik ist der falsche 
Ansatz. Denn Kultur ist Erre 
gungspotential, Kultur ist Zorn 
und Wut über das, was nicht so 
ist, wie es sein soll. Kultur ist 
jene Art von Energie, die sagt: 
Nein, genug, wir wollen etwas 
anderes. Wir erfahren durch die 
Kultur, dass sie uns stärkt, das 
zu realisieren, was wir aus un 
serem Leben eigentlich machen 
wollen. Natürlich darf Kultur 
kann ihnen entgegenkommen, 
kann unsere eigene Situation 
klären. Kunst und alles, was da 
zu gehört, hat dazu beizutragen 
unser Leben zu klären. Kunst 
öffnet uns Türen, ermöglicht 
uns die Wirklichkeit anders zu 
sehen, als wir sie zuvor gesehen 
haben. Sie öffnet uns Geheim- 
gänge durch das Bestehende, 
schafft beglückende Augen 
blicke von Lebenserfahrung. Ei 
ne Kunst, die uns das vor 
enthält, ist auch noch keine 
vollständige Kunst. Auch wenn 
Freud gesagt hat, dass Glück im 
Schöpfungsplan nicht vorgese 
hen sei. Kunst muss dafür sor 
gen, dass Glück vorkommt. Sie 
darf uns auch beruhigen. All das 
erwarten wir von der Kultur. 
Hier sind wir noch längst nicht 
am Ende, weil wir noch nicht 
entdeckt haben, wie viele Mög 
lichkeiten da drinnen stecken.» 
Verführerisch und 
befreiend 
Entscheidend sei, dass die 
Auseinandersetzung mit kultu 
reller Energie uns an einen 
Scheideweg bringe. «Wir müs 
sen uns in unserem Leben ent 
scheiden, was Priorität hat, wo 
wir hin wollen, was uns das 
Wichtigste ist. Kultur hat eine 
Quelle der Allgemeinheit zu 
sein, kein Ort für Spezialisten. 
Kultur muss verführerisch und 
befreiend wirken.» Schleierma 
cher habe einmal gesagt, Reli 
gion sei der Sinn und Ge 
schmack fürs Unendliche. Dar 
auf habe jeder Anrecht. «Ich 
behaupte, Kultur ist Sinn und 
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Regierungsrätiii Andrea Willi 
eröffnete den Kongress mit ih 
rer Ansprache. 
ist das Spielen auch deshalb so 
wichtig, weil der Mensch dabei 
die Möglichkeit hat, sich zu 
vergewissern, wer er ist. Und zu 
vergessen, wer er ist.» 
Kultur als Schlafmittel? 
«Konservative Philosophen 
haben uns gesagt, Kultur sei 
nichts anderes als ein bisschen 
Trost für ein zu hartes Leben.» 
Roman Banzer (links), Präsident der Medienkommission und Josef Frommelt, Alt-Direktor der Mu 
sikschule, in angeregter Diskussion mit den Teilnehmern des Workshops. 
recht hätten. «Ich glaube, wir 
sollten auch ins Theater gehen, 
um anschliessend schlechter zu 
schlafen. Kultur als Schlafmit- 
auch trösten. Nicht alle Men 
schen haben zur gleichen Zeit 
die gleichen Bedürfnisse. Kul 
tur als Erscheinungsphänomen 
Der Leiter der Kultur bei SF DRS, Iso Camartin, hielt ein Referat 
zum Thema »Kultur oder die erneuerbare Lebensenergie», 
i » 
Eva Pepic, Georg Rootering, Manfred Schlapp und Norbert Hasler leiteten zusammen einen Workshop 
(von links). 
Geschmack fürs Endliche. Und 
auch, darauf hat jeder Anrecht. 
Wir müssen dafür sorgen, dass 
für die Kunst Wege geöffnet 
werden auch für jene, für die es 
nicht selbstverständlich ist. 
Kunst ist die Kraft- und Ener 
giequelle, die etwas in unserem 
Leben verändern kann.» Das 
Grundprinzip der Kultur sei die 
Metamorphose. «Wer Kultur 
betreiben möchte, muss ein 
Metamorphosenspezialist sein, 
jemand, der darauf aus ist, die 
Gestalten neu zu suchen und 
etwas wie Spuren zu hinterle 
gen von Urgestein, in einer ge 
genwärtigen Gestalt, einer 
Skulptur, einem Kunstwerk, et 
was anzulegen, was eine Ver 
wandlung geradezu notwendig 
macht. Die künftige Figur in 
der jetzigen erkennbar machen, 
das Geheimnis des Schönen 
noch nicht endgültig klären. 
Kultur ist auch die Verwalterin 
und Garantin der Wahrheit, 
dafür, dass wir noch überzeu 
gendere Lösungen finden.»
	        

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