Donnerstag, 9. November 2000
EHJEG10
WIRTSCHAFT
Seite 3
Wettbewerb um Fachkräfte nimmt zu
Ostschweizer Firmen spüren den Aufschwung - Massnahmen greifen erst mittelfristig
Von Martin Sinzig
Der Mangel an qualifizierten
Arbeitskräften hat alle Bran
chen der Ostschweizer Wirt
schaft erfasst. Der Lohn
druck und der Wettbewerb
um Fachkräfte nehmen zu«
Allgemeine bildungspoliti
sche Massnahmen greifen
erat langsam, die Unterneh
men fördern die Aus- und
Weiterbildung ihrer Mitar
beiter deshalb aus eigener
Initiative.
Noch vor wenigen Jahren sorg
ten immer negativere Schlag
zeilen über Arbeitslosenquo
ten für ein pessimistisches Kli
ma. Existenzängste und Stel
lenabbau waren die beherr
schenden Themen, und kaum
jemand wollte an einen Auf
schwung denken.
Alle Bereiche erfasst
Inzwischen hat sich das
Blatt entscheidend gewendet,
wie jüngste Statistiken zeigen
(siehe Grafik rechts aussen).
Der Kon j un k tu rau fseh wu ng
liess die Arbeitslosenzahlen
markant sinken, die Arbeit
nehmerschaft aufatmen. Dafür
hat sich den Unternehmen ein
neues Problem offenbart, der
Mangel an qualifizierten Ar
beitskräften. Dieser Mangel be
schränkt sich nicht auf die In-
formatik-Branche, sondern er
fasst praktisch alle Bereiche
des zweiten und dritten Wirt
schaftssektors, auch die für die
Ostschweiz bedeutende Textil-
branche, wie Ruedi Aerni
von der Wirtschaftsförderung
Appenzell-Ausserrhoden fest
stellt.
Lob für Behörden
Das bestätigt beispielsweise
Noldi Tobler, Personalleiter bei
der Textilveredlerin AG Cilan-
der mit Standorten in Ilerisau
und Flawil. Das Unternehmen
meldete Ende Oktober einen
anhaltend guten Geschäfts
gang und hat in den vergange
nen zwei Jahren von 125 auf
160 Mitarbeiter aufgestockt.
Bei einem Anteil von 44 Pro
zent Fachkräften werden vor
allem Schlosser und Betriebs
elektriker gesucht, aber auch
Verfahrenstechniker und Inge
nieure. '«Bei einem Anteil von
44 Prozent Fachkräften wer
den vor allem Textiltechniker
und Ingenieure gesucht. Diese
garantieren das Know-how in
einem Textilveredlungsbe
trieb», erklärt Tobler. «Der
Mangel an Fachkräften wirkt
sich auch bei der Stellensuche
aus. Inserate werden nicht nur
in der Schweiz, sondern vor al
lem auch in Österreich und
Deutschland publiziert. In den
letzten zwei Jahren wurden die
Fachleute mehrheitlich aus
diesen Ländern rekrutiert.»
Letztere könnten praktisch
nur noch aus Deutschland
rekrutiert werden, erklärt To
bler. «Die Ämter tun sehr viel,
um uns bei den Bewilligungen
zu helfen», windet der Perso
nalleiter den zuständigen
Behörden ein Kränzchen, auch
wenn er weiss, dass solche
Fachkräfte wegen der Kontin
gente nicht unbegrenzt zur
Verfügung stehen können.
Gesamte Region betroffen
Dass die Grenzen zur EU bei
der Einstellung von Fachleuten
ein gewisses Hindernis sind, ist
zwar unbestritten. Weil aber
im grenznahen Deutschland
eine ähnliche konjunkturelle
Situation herrscht wie in der
Schweiz, würde die im Rah
men der bilateralen Verträge
ausgehandelte Freizügigkeit
im Personenverkehr nur wenig
Entspannung bringen, meint
Aerni.
«Der Fachkräftemangel ist
ein Phänomen der gesamten
Bodenseeregion», weiss auch
Martin Fehle, Direktor der In
dustrie- und Handelskammer
Thurgau, zu berichten. Zwar
seien im Kanton keine syste
matischen Statistiken vorhan
den, doch die Indikatoren sei
en auch hier eindeutig. Der
Wettbewerb um die qualifizier
ten bis hoch qualifizierten Ar
beitskräfte habe zugenommen.
Gerade die wertsehöpfungs-
starken Firmen holten sich ih
re Leute. Ein grosser Lohn
druck sei Ausdruck der aktuel
len Beschäftigungslage.
Bilaterale erst mittelfristig
Für Peter Spuhler, den Inha
ber der aufstrebenden Stadler
Kail Group mit Sitz in Buss-
nang/TG, ist dies ein schwa
cher Trost. Die im Bau von Ge
lenktriebwagen tätige Firma
erweitert derzeit ihre Produk-
tionsräumlichkeiten in Buss-
nang und wird ihre Kapazitä
ten bis im kommenden Jahr
gleich verdoppeln. 50 neue Ar
beitsplätze werden dort entste
hen, wofür praktisch nur Fach
kräfte gesucht werden.
Vor allem Schlosser, Mecha
niker und Schweisser, aber
auch gute Schreiner werden
für die Expansion gebraucht.
Doch das ist laut Spuhler sehr
schwierig, und erst die bilate
ralen Verträge könnten eine ge
wisse Entspannung bringen,
meint der Unternehmer.
Lehrstellen verdoppelt
Das Problem Fachkräfte-
mangel ist auch bei der SFS-
Fachkräfte sind Mangelware - auch in der Textilbranche.
Gruppe mit Sitz in Ileerbrugg
topaktuell. Die zweitgrösste
Lehrlingsausbildnerin im Kan
ton St. Gallen versucht unter
anderem, mit zusätzlichen
Lehrstellen den Mangel an
Fachkräften zu beheben. In der
Produktionsstätte I Ieerbrugg,
die 1200 Beschäftigte zählt,
wurden die Stellen für Mecha
niker- und Konstrukteurlehr-
linge jüngst verdoppelt, wie der
Personalverantwortliche Hans
Zäch erklärt.
Grenznahe weniger wichtig
Ein Handicap bei der Rekru
tierung neuer Fachkräfte ist es,
dass im Rheintal viele ähnliche
Metall verarbeitende Unter-,
nehmen beheimatet sind, und
«alle suchen die gleichen Leu
te», konstatiert Zäch. Auch im
benachbarten Vorarlberg ist
die Industrie ähnlieh gelagert.
Konnten früher recht viele
Grenzgänger gewonnen wer
den, so erweise sich die Grenz
nähe zwar immer noch als ein
Vorteil, der aber nicht mehr so
stark gewichtet werden könne.
Darüber hinaus würden vie
le Ingenieure und Techniker
nach dem Studium kaum mehr
den Weg zurück zur Industrie
finden, weil sie mit den Löhnen
der Telekommunikations-, Ver-
sieherungs- oder Computerfir
men nicht mithalten könne.
Sogtvirkung uu.s Zürich
Ähnliche Sorgen hat das
Thurgauer Medizinaltechnik-
Unternehmen IIMT High Medi-
cal Technologies AG in Lengwil
(ob Kreuzlingen), das sich auf
einem rasanten, zweistelligen
Wachstumskurs befindet und
für den Börsengang rüstet.
Auch hier gestaltet sich die An
werbung von Fachkräften zu
nehmend schwieriger. Die kon
junkturelle Entwicklung habe
einen starken Sog aus den Kan
tonen Zürich und St. Gallen
ausgelöst, meldet die IIMT.
Fachkräfte seien in der EU,
vor allem in Deutschland, vor
handen, doch sei es nicht ein
fach, Arbeits- und Aufenthalts
bewilligungen für die Schweiz
zu erlangen. Um die Engpässe
zu entschärfen, wird deshalb
vermehrt Ausbildung betrie
ben, sei es durch die Schaffung
von Lehrstellen oder durch
Praktika für Studenten.
Aushildungsinitiativen
Die Mangelsituation bei den
Fachkräften werde sich aller
dings abflachen, spricht Ruedi
Aerni von einem befristeten
Engpass. Zumindest mittel
fristig werden die Selbsthilfe-
massnahmen der Firmen grei
fen. Auswirkungen zeigen wer
den dann auch firmenübergrei
fende und von Verbänden lan
cierte Initiativen. Während im
Kanton St. Gallen Ausbildungs
module für Informatiker erst in
Entwicklung sind, habe der
Kanton Thurgau in Sachen Bil
dungsförderung im IT-Bereich
die Nase einmal vorn, meint
Fehle von der IHK Thurgau.
Im Rahmen des zweiten
Lehrstellenbeschlusses des
Bundes wurden beispielsweise
22 Ausbildungsplätze für Me-
diamatiker, 16 neue Basisaus
bildungsstellen für Informati
ker, die Informatik-Mittelschu-
le in Frauenfeld sowie Lehr
gänge für KV-Informatiker und
auch in der Maschinenindus
trie lanciert.
Beschäftigungsaussichten
im Hoch
Der reale Bcschäftigungsansticg der
ersten zwei Quartale des Jahres 2000
widerspiegelt sich im Kanton St. Gallen
in einem kontinuierlichen Ansteigen den
Personalmangels bei den gelernten
Arbeitskräften.
Zeigte die Entwicklung in den Neunzigerjah
ren noch einen deutlichen Rückgang des Per
sonalmangels im Zuge der konjunkturellen
Baisse, so hat sich das Blatt seit Jahresbeginn
gewendet, wie die Fachstelle für Statistik des
St. Gallischen Volkswirtschaftsdepartements
in ihren Erhebungen festgestellt hat.
Über den ganzen Zeitraum ist der Mangel an
gelerntem Personal deutlich höher als derjeni
ge von an- oder ungelerntem Personal. Die
Spanne zwischen dem Anteil der Betriebe mit
Mangel an gelerntem Personal gegenüber dem
Anteil der Betriebe mit Mangel an angelern
tem und ungelerntem Personal hat sich im
Zuge der Niveauabsenkung der Gesamtar-
beitsnachfrage deutlich zuungunsten des Per
sonals schlechterer Qualifikation vergrössert.
Umgekehrt präsentiert sich die Lage, wenn die
Betriebe nach l'ersonalüberfluss gefragt wer
den.
Trendwende seit 1998
Die Gesamtbeschäftigung entwickelte sich
im Kanton St. Gallen im Zuge der wirtschaftli
chen Konjunkturbaisse im Zeitraum 199.1 bis
Mitte 1997 in der Tendenz negativ. Seit Anfang
1998 zeichnet sich im Kanton St. Gallen eine
Trendwende ab. Im zweiten Quartal 2000 stieg
die Gesamtbeschäftigung leicht an, dank der
Zunahme beim zweiten Sektor.
Verglichen mit dem Vorjahresquartal
(2/1999) liegt die Gesamtbeschäftigung um
0,4 Prozent höher. Diese Steigerung geht
Pianmmi de P*rt«nalmtng*l
100
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1990 1991 1»! 1993 1 994 199S 199« 1997 1999 1999 2000
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ntch Aisatu M« totchMfltn
Personalmangel der Betriebe im Kt. St. Gallen
im jeweiligen Berichtsquartal nach Qualifi
kationsniveau der fehlenden Arbeitskräfte.
vollständigauf das Konto derDienstleistungs-
branchen (Sektor 3) mit einem Wachstum
von 1,9 Prozent gegenüber dem Vorjahres
quartal. Die Beschäftigung in Industrie und
Gewerbe (2. Sektor) blieb im 2. Quartal 2000
gegenüber dem Vorjahresquartal 11111 1,6 Pro
zent zurück.
Positiver Ausblick
Vor dem Hintergrund der von den Unter
nehmen gemeldeten Beschäftigungsaussieh-
ten ist eine weiterhin positive Besehäftigungs-
entwicklung zu erwarten. Die Einsehätzung
der Betriebe über die Beschäftigungsaussieh-
ten waren im 2. Quartal 2000 so positiv wie
seit Anfang der 90er-Jahre nie mehr. Seit 1997
ist ein Aufwärtstrend bei den Beschäftigungs-
aussichten der Betriebe festzustellen, der sei
ne Entsprechung im Anstieg der tatsächlichen
Beschäftigung findet. Murtin Sinzig
Zum Kaufmännischen die Informatik
Thurgauer Firmen schaffen neue Lehrstellen für KV-Informatiker
Um etwas gegen den extre
men Mangel an Lehrstellen
zu tun, haben zwei Thurgau
er Firmen neue Ausbildungs
plätze für KV-Informatiker
geschaffen, eine Neuheit für
die Ostschwciz.
Unternehmen der Kommuni-
kations- und Informatikbran
che kreieren laufend neue Ar
beitsplätze, doch qualifizierter
Nachwuchs ist schwer zu fin
den. The BEE Company, Täger-
wilen, und die Root-Service
AG, Bürglen, wollten nicht ta
tenlos zusehen, sondern haben
eigene Initiativen ergriffen.
Gemeinsam wollten die bei
den Firmen zwanzig Ausbil
dungsplätze schaffen. 15 Plätze
konnten nach einer Vorselekti
on im Frühsommer bis im Au
gust besetzt werden.
Brückenschlag
Die KV-Informatiker sollen
neben kaufmännischen Aufga
ben auch Informatikprobleme
lösen können, also eine Brücke
zwischen der kaufmännischen
Grund- und einer anspruchs
vollen Informatikausbildung
schaffen. Die neue Ausbildung
soll im Rahmen des Berufsbil
des «KV-Informatik» die kauf
männische Ausbildung am Be
rufsbildungszentrum in Wein-
felden erweitern. Im Bereich
KV-Informatik werden junge
Leute kaufmännisch ausgebil
det, wobei konkret eine Spezia
lisierung in den drei Informa
tik-Sektoren Support, Pro
grammierung und IT-Technolo-
gie ermöglicht wird.
Ostschweizer Premiere
Mit Unterstützung der Thur
gauer Wirtschaftsverbände hat
ten die beiden Initianten den
dreijährigen Lehrgang innert
weniger Monate realisiert und
damit für eine Ostschweizer
Premiere gesorgt. Während im
Kanton Zürich KV-Informati
ker bereits seit vier Jahren aus
gebildet werden, war die Ost
schweiz bisher im Rückstand.
Mit den neuen Ausbildungs
plätzen, die seit Sommer 2000
bereitstehen, hat der Thurgau
in Sachen Ausbildung eine Vor
reiterrolle eingenommen. Dass
das Bedürfnis nach qualifizier
ten Arbeitskräften in der Kom
munikations- und Informatik
branche gross ist, zeigt die Ent
wicklung der beiden Firmen.
Hat The BEE Company im Sep
tember 1996 mit drei Mitarbei
tern begonnen, so gilt sie heute
mit rund 350 Beschäftigten als
führendes «Customer Relati-
ons Management Center» der
Schweiz im Hochtechnologie-
Sektor. Auch bei der Root-Ser-
vice AG in Bürglen stehen die
Zeichen auf Wachstum. Das
Unternehmen mit 30 Mitarbei
tern zählt sich in der Region zu
den führenden Anbietern von
Applikationen im Gesundheits
wesen. Martin Sinzig
Mit Spass dabei: Junge Leute bei der Vorselektion
zum Ausbildungslehrgang für KV-Informatiker.