Liechtensteiner VOLKSBLATT
AUSLAND
Mittwoch, 8. November 2000 33
Teuerster Wahlkampf in der
US-Geschichte
Präsidenten- und Kongresswählen: Bush und Gore in Umfragen gleichauf
Der demokratische Präsidentschaftskandidat AI Gore hat am
Dienstagmittag {Ortszeit) in seinem Heimatstaat Tennessee seine
Stimme abgegeben. (Bild: Keystone)
WASHINGTON: Nach mehr
als einjährigem Wahl
kampfmarathon um die
Nachfolge von US-Präsi-
dent Bill Clinton hatten
gestern die Wähler das
Wort: Das Rennen um das
Weisse Haus zwischen
den Hauptrivalen AI Gore
und George W. Bush war
zugleich das spannendste
seit 40 Jahren. Der Aus
gang war auch am Wahl
tag noch völlig offen.
Vizepräsident Gore von den
Demokraten und der republika
nische Gouverneur Bush aus
Texas liegen seit Wochen in
Umfragen Kopf an Kopf. Ge
wählt wurden auch ein neuer
Kongress und elf der 50 Gou
verneure der Einzclstaaten. Mit
drei Milliarden Dollar war es
der teuerste Wahlkampf in der
US-Geschichte.
Die Präsidentschaftskandida
ten der beiden grossen Parteien
gaben sich siegessicher. Bush
war bereits in einer ersten klei
nen Abstimmung in zwei entle
genen Orten in New Hampshi
re, Hart's Location und Dixville
Notch, siegreich. Dort wird tra
ditionell schon uni Mitternacht
(Ortszeit) gewählt. In der Ver
gangenheit liess sich aus den
Ergebnissen dort jedoch kein
landesweiter Trend ableiten.
Allgemein öffneten die ersten
Wahllokale im Westen der USA
um 6 Uhr (12 Uhr MEZ).
Die Kandidaten hatten bis zu
letzt um die Gunst der Wähler
gekämpft. Seit dem Wochenen
de absolvierten Bush und Gore
beinahe rund um die Uhr Dut
zende Wahlkampfauftritte vor
allem in den Staaten, in denen
das Rennen eng wird und denen
auf Grund des Wahlsystems ei
ne Schlüsselrolle bei der Wahl
des 43. Präsidenten zufällt.
Denn gewählt wurden gestern
eigentlich nicht die Präsident
schaftskandidaten, sondern in
jedem Staat je nach dessen Be
völkerungszahl eine bestimme
Anzahl von Wahlmännern. Ins
gesamt sind es 538 Wahlmän
ner. Um zum Präsidenten ge
wählt zu werden, sind die Stim
men von mindestens 270 Mit
gliedern des Wahlkollegiums
nötig. Dem Sieger in einem
Staat fallen sämtliche Wahl
männerstimmen zu.
Gore trat um Mitternacht auf
der Abschlusskundgebung in
Miami im Staat Florida auf. Er
habe keinen Zweifel, dass er
den Tag als gewählter Präsident
beenden werde, sagte Gore.
Auch Bush zeigte sich bei sei
ner Rückkehr von der Wahl
kampftour in die texanische
Hauptstadt Austin sicher, dass
er gewinnen werde. Bush wähl
te am Vormittag mit seiner
Frau Laura in Austin. Gore
wollte nach einer kurzen Rast
in Nashville in seinem Heimat
staat Tennessee wählen.
In den Meinungsumfragen
wurde der Abstand zwischen
Bush, der landesweit knapp
führte, und Gore zum Wahltag
hin immer enger. Zum Züng
lein an der Waage könnte der
Grünen-Kandidat Ralph Nader
werden, der nach Umfragen
zwar nur bis zu fünf Prozent
der Stimmen erhalten dürfte,
aber dem liberalen Gore ent
scheidende Stimmen abnehmen
könnte. Der neue Präsident tritt
sein Amt am 20. Januar an.
Bei der Kongresswahl konzent
riert sich das Interesse auf die
Frage, ob die Republikaner ihre
Mehrheit in beiden Kammern
halten können oder die Demo
kraten zumindest eine Kammer
für sich gewinnen werden.
Hacker am Werk
WASHINGTON: Computer-
Hacker sind nur wenige Stun
den vor Öffnung der Wahllo
kale zur US-Präsidentenwahl
in eine republikanische Inter
netseite eingebrochen. Auch
eine Internetseite der Demo
kraten wurde von Hackern
geknackt. Die Hacker störten
mit ihrem Eindringen die
Funktion der betroffenen In
ternetseiten kuizzeitig. So er
schien am Dienstag unter der
Web-Adresse der republikani
schen Partei ('www.gop.org')
eine Botschaft, die zur . Wahl
; des demokratischen Kandida-
ten AI Gore aufrief. Zur Ma
nipulation des Internet-Auf
tritts bekannte sich . die
Hacker-Gruppe 'attrition.org'.
■V
Zehntausende auf der Strasse
Demonstrationen zum Jahrestag der Oktoberrevolution
MOSKAU: Zehntausende von
Menschen haben gestern in
Russland und anderen ehema
ligen Sowjetrepubliken mit
Aufmärschen und Kundge
bungen den 83. Jahrestag der
Oktoberrevolution begangen.
Redner beklagten den Verlust
der sowjetischen Weltmacht
stellung und beschuldigten die
Behörden, dem wirtschaftli
chen Niedergang des Landes
nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion vor neun Jahren
weitgehend gleichgültig zu be
gegnen. Die Kritik an der Re
gierung fiel im Gegensatz zu
den vergangenen Jahren relativ
milde aus, da die meisten Men
schen, die den früheren Präsi
denten Boris Jelzin für das En
de der Sowjetunion verant
wortlich machten, in dessen
Nachfolger Wladimir Putin ei
nen Hoffnungsträger sehen.
Viele ältere Menschen
In Moskau beteiligten sich
über 5000 meist ältere Men
schen an einer Demonstration,
die vom russischen KP-Chef
Gennadi Sjuganow angeführt
wurde. Einige Demonstranten
schwenkten rote Fahnen und
führten Bilder von Josef Wassi-
rionowitsch Stalin mit sich. Sie
zogen vom Lenin-Denkmal auf
dem Kaluschskaja-Platz zum
Bolschoi-Theater und von dort
zum Karl-Marx-Denkmal.
An einem zweiten Marsch
der radikaleren Russischen Ar
beiterpartei nahmen rund 1000
Menschen teil. Der Rote Platz,
auf dem zu sowjetischen Zeiten
die grosse Revolutionsparade
stattfand, war diesmal für De
monstranten gesperrt.
Auch in mehreren anderen
Städten Russlands, wie Wolgo-
Zu Ehren der Oktoberrevolution wurden in Russland tausende von
Fahnen geschwenkt. (Bild: Keystone)
grad, dem ehemaligen Stalin
grad, und Wladiwostok begin
gen mehrere tausend Demonst
ranten den Jahrestag der Revo
lution. In der ukrainischen
Hauptstadt Kiew gingen rund
2000 Menschen auf die Strasse,
in der weissrussischen Haupt
stadt Minsk waren es an die
tausend.
Offizieller Feiertag
Der so genannte Sturm auf
den Winterpalast in St. Peters-
Importverbot?
Furcht wegen Rinderwahnsinn
PARIS: Nach einer Häutung
von Fällen der Rinderseuche
BSE hat sich in Frankreich ei
ne allgemeine Furcht vor der
Übertragung der tödlichen
Krankheit auf Menschen breit
gemacht. Als eine der Reaktio
nen werden eine Million Rin
der vom Markt genommen.
Angesichts der neuen BSE-Fäl
le in Frankreich sei es «sehr
wahrscheinlich, dass wir meh
rere Dutzend Fälle von Creutz
feldt-Jakob haben werden»,
sagte die Staatssekretärin im
Gesundheitsministerium, Do
minique Gillot, der Tageszei
tung «Le Parisien».
Präsident Jacques Chirac for
derte einen umfassenden Stopp
der Verfütterung von Tiermehl.
Mehrere Provinzstädte wie
Avignon und Martigues schlös
sen sich dem Rindfleisch-Em
bargo für Schulkantinen an,
das bereits in elf von 20 Pariser
Arrondissements galt.
Die Supermarkt-Ketten
Auchan und Carrefour ver
zeichneten bei Rindfleisch Ver
kaufseinbrüche. In den
Schlachthöfen ging der Rind-
fleisch-Umsatz um bis zu 50
Prozent zurück.
Französische Züchter neh
men wegen der zunehmenden
Angst eine bis 1,3 Millionen
Rinder vom Markt, fünf bis sie
ben Prozent des Viehbestandes.
Alle vor dem 15. Juli 1996 ge
borenen Rinder würden nicht
mehr in die Nahrungskette ge
langen, sagte eine Sprecherin
des Landwirtschaftsverbandes
FNSEA am Dienstagabend in
Paris. Mitte Juli 1996 waren in
Frankreich strenge Auflagen im
Kampf gegen BSE in Kraft ge
treten.
Blair und Adams: Den Friedens*
prozess in Nordirland retten
bürg, der 1917 den Sieg der
Bolschewiki über die bürgerli
che Regierung Alexander Ke-
renski besiegelte, fand nach
dem damals in Russland gülti
gen Julianischcn Kalender in
der Nacht vom 24. zum 25. Ok
tober statt. Nach dem später
eingeführten Gregorianischen
Kalender fallt dieses Datum auf
den 7. und 8. November. In
Russland ist der 7. November
auch heute noch ein offizieller
Feiertag.
LONDON: Der-britische Frer .
mierminister Tony Blair und
der nordirische Katholikett-
führer Geriy Adams, .haben;
sich • am Dienstag zu Ge
sprächen über den stockenden
Friedensprozess in Nordirland
getroffen. Er habe ein tgutes
Treffen» mit Blair gehabt und
habe die Hoffnung, in nächs
ter Zeit zu einer tösun&manV
eher Probleme zu kbpunen,
sagte der Chef der Sinn-Fein-'
Partei, 4em politische^ Ann
der Untergrandorganisation.
Irisch Republikanische Armee
(IRA). Blair und Adams hatten
sich zu einer mehrere Stunden,
dauerndem; Unterredung zu- 1 ,
rückgezogen; lh' : ,der^es vor^
rangig um den noch immer
nicht beigelegten Streit um
die Entwaffnung der IRA ge
hen sollte, der den Friedens
prozess in Nordirland nach
haltig bedroht. Der protestan
tische Erste Minister Nordir
lands, David Trimble, hatte
Ende Oktober die beiden
Sinn-Fein-Minister aus dem
Nord-Süd- Ministerrat ausge
gossen.' Er begründete den
Schritt mit mangelnden Fort
schritten bei der Entwaffnung
der katholischen Untergrund
organisation. Adams wollte
bei den Gesprächen Blair von
.einer. Aufhebung der Ent
scheidung Trimbles überzeu-
« en : " : ; r ; > v *
NACHRICHTEN
EU-Osterwelteru ng
i nicht vor 2004
j HAMBURG: Die HU plant
• die erste Runde ihrer Oster
weiterung nach Informatio
nen der «Financial Times
; Deutschland» frühestens im
i Jahr 2004. Dies berichtet
das Blatt (Dienstagausgabe)
j unter Berufung auf ein
; Strategiepapier, das die EU-
\ Kommission heute formell
' annehmen wolle. Demnach
l sollen die Verhandlungen
j mit den politisch und wirt-
j schaftlich reifen Beitritts-
| kandidaten erst in der zwei-
i ten Hälfte 2002 abgeschlos-
\ sen werden. Da die Ratifi-
) zierung von EU-Beitritten
! durch die nationalen Paria-
}
i mente etwa 18 Monate
I dauere, sei ein Beitritt vor
i 2004 praktisch unmöglich,
j heisst es in der Zeitung wei-
•j ter. Offiziell solle der Zeit-
| plan beim Gipfel der EU-
! Staats- und Regierungschefs
| Anfang Dezember in Nizza
beschlossen werden.
1
j Haftbefehl gegen
j Montesinos
LIMA: Ein peruanischer
| Richter hat am Dienstag
| Haftbefehl gegen den frühe-
! ren Geheimdienstchef Vla-
j dimiro Montesinos erlassen.
j Ausserdem wurden die Auf-
j hebung des Bankgeheimnis-
j ses für seine Konten und
j Hausdurchsuchungen ver-
< fügt. Dies gab der Sonder-
i Staatsanwalt Jose Ugaz in
• Lima bekannt. Der Aufent-
j haltsort von Montesinos ist
: unbekannt. Die Umtriebe
| von Montesinos hatten im
1 September in Peru eine po-
I litische Krise eskalieren las-
| sen, die seit der umstritte-
j nen Wiederwahl von
I Staatspräsident Alberto Fu-
| jimori im Frühjahr ge-
! schwelt hatte. Medien war
| ein Videoband zugespielt
j worden, das Montesinos bei
1 der Übergabe von Schmier-
| geldern an einen Oppositi-
\ onsabgeordneten zeigte.
| Daraufhin kündigte Fujimo-
ri Neuwahlen ohne seine
Kandidatur an. Montesinos
setzte sich nach Panama ab,
kehrte aber nach einem Mo
nat nach Peru zurück.
Positive Signale
j für Estland
j BERLIN: Deutschland be-
j wertet die Bemühungen Est
lands um einen Beitritt zur
Europäischen Union positiv.
Das sagte der deutsche Prä
sident Johannes Rau seinem
estnischen Amtskollegen
Lennart Meri bei dessen
Staatsbesuch gestern in Ber
lin. Estland werde bis 2002
die Vorbereitungen für den
EU-Beitritt abgeschlossen
haben, erläuterte Meri dem
i deutschen Präsidenten. Über
' die Aufnahme in die Eu
ropäische Union will er am
Mittwoch auch mit dem
; deutschen Bundeskanzler
: Gerhard Schröder sprechen.