26 Samstag, 7. Okober 2000
KULTUR
Liechtensteiner VOLKSBLATT
«Ein Engel der Nagetiere»
Eindrückliche Sprachgewalt mit Heinz und David Bennent in Theater am Kirchplatz
Familie Bennent auf der TaK-Bühne: Vater Heinz, Tochter Anne und Sohn David.
Wer kennt ihn nicht, den
Namen Bennent - die in
ternationale erfolgreiche
Schauspielerfamilie mit
Vater Heinz (verheiratet
mit der Tänzerin Paulette
Renou, Künstlername:
Diane Mansart), Tochter
Anne und Sohn David.
Gerolf Hauser
Donnerstag boten Vater und
Sohn mit Heiner Müllers «Bild
beschreibung» und «Hyperion»
von Friedrich Hölderlin auf der
Bühne de$ TaK einen faszinie
renden Theaterabend. Heute
Abend zeichnet Anne Bennent,
zusammen mit dem Akkordeo-
nisten Otto Lechner, mit Ge
schichten aus dem «Bleistiftge
bet» auf der BUhne des TaK ein
Persönlichkeitsbild von Robert
Walser.
Greifbare Wirklichkeit
Es mag auf den ersten Blick
ein Wagnis sein, die «Bildbe
schreibung» von Heiner Müller
(1929-1995) auf der Bühne zu
verbinden mit dem «Hyperion»
von Friedrich Hölderlin (1770-
1843). Der zweite Blick zeigt, es
ist ein genialer Meisterstreich.
Beide Texte sind durchzogen
von Sprachgewalt, und beide
haben das Suchen nach Inhalt
in einer Welt des Nichts zum
Inhalt. Heiner Müller, neben
Botho Strauss der zentrale, aber
auch umstrittene deutsche Dra
matiker, zeigt verschlüsselt die
Widersprüchlichkeit (in einer
Passage der «Bildbeschreibung»
ist die Rede vom «Engel der Na
getiere») und das Scheitern des
Menschen und der Kulturpoli
tik.
Da steht einer auf der Bühne
und beschreibt ein Bild, zuerst
nur akribisch, dann unter Hin
zufügen von Vermutungen,
weiterführend in Phantasien.
David Bennent spricht mit
sparsamen Gesten, geschickten
Pausen und Akzentuieren die
endlose Kette von Gedankenas
soziationen, wie in Trance, die
ihm immer tiefere Blicke in das
Bild gibt, eine Hypothese nach
der anderen daran anknüpfend.
Sprachgewaltig, eigentlich
Sprachbilder schaffend, gelingt
es David Bennent, jede der Hy
pothesen der Bildbeschreibung
zur greifbaren Wirklichkeit
werden zu lassen - ein Kriml-
Wechelspiel von Sprache und
Gedanken, das ständig Neues
gebiert, überragend dargebo
ten. Und in dem Moment, als
die Bildbeschreibung immer
mehr zur Beschreibung des In
dividuums wird, steht Heinz
Bennent, er sass die ganze Zeit
im Halbdunkel auf der Bühne,
auf und beginnt mit Hölderlin.
Lebendige Sehnsucht
Bei Müller's Stück, das ein
«Bild» beschreibt, gibt es den
Satz «Oder ist alles anders? Das
Andere gesucht in der Wieder
kehr des Gleichen.» Und zu Be
ginn des «Hyperion» von Höl
derlin heisst es: «Ich denke
nach und finde mich, wie ich
zuvor war: allein». Wie Heinz
Bennent anknüpft an Müller
(bzw. seinen Sohn David) -
wunderbar, dass sie die beiden
Stücke nicht zeitlich chronolo
gisch vorgetragen haben - wie
er die unendliche Seelennot des
«Hyperion», des Friedrich Höl
derlin, in dieser Verdichtung
vorträgt, das lässt erschauern.
«Ach wäre ich doch nie in eure
Schulen gegangen; durch euch
bin ich so richtig vernünftig
geworden» - das ist das Leiden,
denn «im Kind ist Freiheit, in
ihm ist Frieden, es kennt sein
Herz».
Heinz Bennent spielt nicht, er
ist Hölderlins innere Entfrem
dung vom Christentum, ist die
Nähe der geistigen Umnach
tung, ist das Leid an der Indivi-
duation, die Sehnsucht nach
dem Einssein mit der Natur.
Hölderlins bei «Hyperion» an
gewandte Technik ist der Rück
blick, der, in Briefform ge
schrieben, das Vergangene in
die Gegenwart bringt. Heiner
Müller schrieb zu seiner «Bild
beschreibung»: «Die Handlung
Ist beliebig, da die Folgen Ver
gangenheit sind, Explosion ei
ner Erinnerung in einer abge
storbenen dramatischen Struk
tur.» So zeigen zwei überragen
de Schauspieler die überragen
de Idee beider Texte.
Die Schauspieler
Heinz Bennent interpretierte
in klassischen und modernen
Dramen wie Komödien im Lau
fe seiner Karriere eine Vielzahl
von Charakterrollen. Bald ka
men Film (z. B. «Aus dem Leben
der Regenwürmer», 1984, Re
gie: Ingmar Bergman) und
Fernsehen (z. B. «Der Kommis
sar» oder «Derrick») dazu. 1995
spielte Heinz Bennent zusam
men mit seinem Sohn David in
Joöl Jouanneaus Lausanner
Inszenierung von Becketts
«Endspiel», die von der Fachkri
tik als Sensation gefeiert wur
de. International bekannt wur
de David Bennent mit der Rolle
des Oskar Matzerath in «Die
Blechtrommel». Nach Kinofil
men mit Grössen wie Lee Mar-
vin und Tom Cruise verlegte
sich David Bennent endgültig
auf das Theater.
Le bleu des villes - ein kleines Meisterwerk an Sensibilität
Filmclub Frohsinn im TaKino an diesem Wochenende
Die Leinwand ist noch dunkel,
da tönt schon der Regen. Nicht
das beste Wetter für eine Poli-
tesse wie Solange (Florence
Vignon). Kein netter Job oh
nehin: Strafzettel verteilen
und dafür die üblen Flüche
der Parksünder einstecken.
Später wird Solange zurück
schlagen, rabiat und mit dem
Handtäschchen als Waffe. Zur
Belohnung wird sie sich
Zuckerwatte kaufen. Aber von
ein bisschen Zuckerwatte wird
das trübe Leben natürlich nicht
gleich rosa. Daheim hat Solan
ge einen Ehemann, der ihr zum
Geburtstag einen Kaffeekocher
schenkt, weil er sich nicht
traut, Dessous zu kaufen. Auch
meint dieser eigentlich rührige
Gatte, dass sich mit einem hüb
schen neuen Eigenheim ein
ebenso hübsches Eheglück zim
mern lasse. Was der Heimwer
ker nicht begreift: Die ihm un
erklärliche Unlust von Solange
rührt nicht daher, dass sie in
der neuen Wohnung lieber Par
kett hätte anstatt Fliesen. ! ij
Sanfte Wehmut kleidet sich
in unaufdringliche Komik im
Erstling von Regisseur Stepha
ne Briz£ und Hauptdarstellerin
Florence Vignon, die gemein
sam das Drehbuch zu «Le bleu
des villes» verfasst haben. Ihre
Protagonistin steht am Ende ei
ner Genealogie verschiedener
Entwürfe weiblicher Biografi-
en. Solanges Grossmutter hat
sich selbst betrogen, die Mutter
betrügt ihren Mann, nun ists an
Solange, sich neu zu lancieren.
Den Impuls dafür gibt ihr das
Wiedersehen mit einer alten
Schulfreundin (Mathilde Seig-
ner), die als Wetterfee Karriere
macht und mittleren Starstatus
geniesst. Da besinnt sich So
lange, dass sie eigentlich sin
gen will, und zwar nicht bloss
Karaoke daheim im Wohnzim
mer. Feier des kleinen Glücks
Solange macht also auf Auf
bruch, anstatt vom Weggehen
weiterhin nur zu träumen.
«Le bleu des villes» ist von
heute Samstag, 7.10. bis Mon
tag 9.10. jeweils um 20 Uhr im
TaKino in Schaan zu sehen.
Love Me - Sehnsucht pur!
Die unmögliche Geschichte
einer Frau, die nach Liebe sucht
und einem Sänger, der nicht
mehr an Liebe glaubt. Er ist ihr
Idol, seit sie sich erinnern kann.
Sie folgt ihm nach Memphis,
USA. Er entzieht sich ihr. Sie
gibt nicht auf. Und am Ende
empfindet er etwas für sie. Aber
es ist auch die Geschichte einer
jungen Frau, die allein ist und
sich in ihre Träume flüchtet,
um der Wirklichkeit und der ei
genen Vergangenheit zu ent
fliehen. Und so wird die Ge
schichte zwischen der Frau und
dem Sänger komplex. Wo hört
die Wirklichkeit auf und wo be
ginnt die Imagination? Laetitia
Masson vertraut der Suggestion
des Kinos - und dank ihrer ful
minanten Protagonistin darf sie
das auch ohne jeden Vorbehalt.
«Love me» ist am Sonntag, 8.
Oktober um 18 Uhr im TaKino
zu sehen.
Auch die Lügen werden schöner
Ein Narren-Gemisch aus Liedern, Texten und Schwachsinn
Er stammt aus Berlin, dem
ehemaligen Osten, und, so
schrieb eine Hamburger Zei
tung, es sei ein Skandal, dass
er im Westen so wenig bekannt
sei, denn seine Lieder und Tex
te gehörten zum Besten, was es
zur Zeit gebe. Die Rede ist von
Hans-Eckardt Wenzel.
Und dieses Beste gab er im
Theater am Saumarkt in Feld
kirch vor einem handverlese
nen kleinen Publikum zum Be
sten. Titel seines Programms:
«Schöner Lügen, ein Narren-
Gemisch aus Liedern, Texten
und Schwachsinn!» Schwach
sinn war es nun wirklich nicht,
aber, logisch, alles auf die ehe
mals zwei, heute vereinten
Deutschlands bezogen. Das
macht Auslandsengagements
zu Auftritten in exklusivem
Kreis. Da beginnt er mit dem
Satz: Im letzten Jahrhundert
galt das Wort eines slawischen
Politikers, der sagte, dass, wer
zu spät komme, das Leben be
strafe. In diesem neuen Jahr
hundert gelte das Wort eines
deutschen Politikers: Keine Na
men. «Wir Deutschen haben
eben nicht viel ausser Klassik
und dem deutschen Ehren
wort.» Und so sang und spielte
der Multiinstrumental ist (Kla
vier, Akkordeon, Gitarre), zu
sammen mit seinen Mitstreitern
Jan Hermerschmidt (Klarinet
ten) und Karl-Heinz Saleh (Gi
tarren und Percussion) vom im
mer schöner werdenden Krieg,
den schöner werdenden Woh
nungen und Menschen, Telefo
nen und Kleinwagen, Bundes
kanzler und Minister. Warum
also sollten die Lügen nicht
auch schöner werden? Das war
mehr als gekonnt (trotz tech
nisch nicht immer gut ver
ständlicher Verstärkung), da
spürte man bei jedem Satz den
Könner, der nicht umsonst Be
sitzer des Heinrich-Heine- und
des Deutschen Kabarettpreises
ist, der mit heiserem Gesang die
bösen Geister der schönen Zu
kunft herauf beschwörte. Als
Beispiel ein Textauszug aus
dem Lied «Paradies»: «Heut
komm ich nicht aus den Sen
ken, gefesselt ans Bett noch
vom Wein, träum ich von kal
ten Getränken, und will wieder
ordentlich sein. Mein Kopf
rauscht, als rieselte Kies auf
den Boden, wenn' sacht ich
mich bücke, es öffnet sich fins
ter, wie ein Verliess, meine Er
innerungslücke. Ach, in diesem
tristen Land, dem kalten, da
ist's nüchtern doch nicht aus
zuhalten, und wie alle, wär
auch ich zu gerne lieber ir
gendwo ganz weit, da in der
fernsten Feme zwischen
schwankenden Gestalten.» (gh)
Faszinierende Kollektiv-Improvisation
«Orfeo Saxophone Quartet» mit einem überzeugenden Konzert im Pfortnerhaus
Wenn vom Saxophon die Rede
sei, so heisst es, denke man
sofort an Improvisation. Das
«Orfeo Saxophone Quartet»
hatte mehrere Programm
punkte mit Improvisation
beim Konzert im «Pförtner
haus» in Feldkirch.
Gerolf Hauser
Das Quartett, es besteht aus
Jörg Maria Ortwein (Sopransa
xophon), Fabian Pablo Müller
(Altsaxophon), Peter Gasteiger
(Tenorsaxophon) und David
Rupp (Baritonsaxophon), wur
de 1994 von Jörg Maria Ort
wein am Landeskonservatori
um für Vorarlberg gegründet
und ist seitdem in vielen Kon
zertsälen in Österreich, Italien,
der Schweiz und Deutschland
zu Gast.
Man gibt dem Quartett Attri
bute wie hohe Klangkultur,
präzises Zusammenspiel Und
ein breites Repertoire von klas
sischer Musik bis zu Klängen
unserer heutigen Zeit. Tatsäch
lich bestätigten sie im Pförtner
haus bei der Musikschule in
Feldkirch diese Qualitäten,
auch wenn Jörg Maria Ortwein
wohl keinen exzellent guten
Tag hatte, was nicht nur bei;
den fast gestotterten Ansagen
zu bemerken war.
Da gab es grandiose, ansatz
lose Einsätze, wunderbar samt-«;
weiche Pianissimo-Stellen,|
kraftvolle Tutti-Passagen mit?
homogenem Klang (bis auf ei- '
nige Phasen, in denen das So
pransaxophon dominierte, über
das durch die Klanghöhe
selbstverständliche Herausra
gen hinaus). Der Abend begann
mit einer Uraufführung, dem
Stück «Beziehungskisten» des
jungen Komponisten Peter
Engl, ein Stück; das in seinen
vier Sätzen lautmalerisch und
mit rhythmisch hoch spannen
den Verschiebungen sowohl
das Vehemente wie auch Har
monische einer Beziehung auf
zeigte.
Es folgte eine faszinierende
Kollektiv-Improvisation mit
überwältigend schönen me
ditativen Stellen über die Töne
B-A-C-H. In dem Stück «The
Grey Convoy» beschreibt der
amerikanische Komponist und
Jazzsaxophonist Dave Lieb
mann die Schrecken der Mauer,
die einst Deutschland teilte.
Das Quartett spielte die Uniso
no-Trauermelodien ebenso per
fekt wie die eingestreuten Jazz
improvisationen. Die folgenden
vier Kompositionen waren dem
Tango gewidmet: «Quartetto II»
des Schweizers Roberto di Ma
rino, «Recuerdo» (so heisst auch
die neue CD des Orfeo Quartets)
von Osvaldo Pugliese und
«Contrabajeando» und «Adios
Nonino» von Astor Piazzolla.
Sowohl hier wie auch bei «Ulla
in Africa» von Heiner Wiberny
glänzte das Orfeo Quartet durch
stimmiges Verständnis der
südamerikanischen bzw. afrika
nischen Rhythmen und Klänge.
Den musikalisch wertvollen
Abend schlössen sie ab mit ei
nem Potpourri aus Gershwins
Oper «Porgy and Bess».
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