Liechtensteiner VOLKSBLATT
INLAND
Donnerstag, 5. Oktober 2000 7
Wie ist der Mensch organisiert?
Öffentliches Symposium zur Eröffnung der «Universität für Humanwissenschaften»
Die nach mehr als einem
Jahrzehnt Vorbereitung
nun eröffnete «Universität
für Humanwissenschaften
im Fürstentum Liechten
stein» mit Sitz in Triesen
will - zunächst für die
Fächer Psychologie und
Neurowissenschaften
neue Antworten auf die
Frage bieten, wie ein
ideales Doktoratsstudium
aussehen sollte (die Studi
en stehen Studierenden
mit erfolgreichem Stu-
dienabschluss im Haupt
fach Psychologie oder
Medizin offen).
Gerolf Hauser
Um eine Erweiterung der Spe
zialisierung zu erreichen, liege
der Schwerpunkt der Univer
sität in der interdisziplinären
Forschung. Die 10-jährige Zu
sammenarbeit zwischen den
Professoren Guttmann und
Prof. Kesselring, Chefarzt Neu
rologie an der Klinik Valens
(Rheuma- und Rehabilitations
zentrum), zeige, dass die
Brücke zwischen Psychologie
und Neurologie besonders
wichtig sei.
Feuer und Flamme
«Wir waren alle Feuer und
Flamme, diese Universität hier
realisieren zu können», sagte
S.D. Fürst Hans-Adam II. bei
der Eröffnung der «Universität
für Humanwissenschaften im
Fürstentum Liechtenstein» am
Dienstag im LGT SCTyice Center
in Bendern. Sozusagen Feuer
und Flamme für ihr Fach und
die neue Universität zeigten
beim gestrigen öffentlichen
Symposium im Mehrzwecksaal
«Campo Rin» der LGT Bank in
Bendern, in Anwesenheit des
Erbprinzen, die Referenten, die
Professoren Giselher Gutt
mann, Erich Kirchler, Jürg Kes
selring und Dr. Peter Theurl.
Persönlichkeitsmerkmale
Am Vormittag zeigte Prof.
Dr. Giselher Guttmann, Grün
dungsrektor der Universität, in
seinem Vortrag «Neue Wege der
Psychodiagnostik» nicht nur
neue Wege, sondern eben jene
Brücke zwischen Psychologie
und Neurologie. Der Wunsch
herauszufinden, wie der
Mensch organisiert ist, sei so
alt wie die Menschheit, begann
Prof. Guttmann seine Aus
führungen. Immer sei man da
von ausgegangen, dass es sich
beim Menschen um angebore-
Prof. Dr. Giselher Guttmann und Prof. Dr. Erich Kirchler (rechts) referierten am Symposium.
ne, unveränderliche Eigenhei
ten, um stabile Persönlichkeits
merkmale (trait) handele. Als
man begann, Personen vor
Problemsituationen zu stellen
und zu schauen, wie gut und
schnell sie zu einer Lösung fin
den, also Testsituationen zu
schaffen, die das nachbilden,
was die wirkliche Lebenswelt
uns aufgibt, habe man aus der
Art und Weise, wie Lösungen
gefunden werden, Hinweise er
halten bezüglich des Bega
bungspotentials und seiner
Veränderung und erkannte,
dass bei geeigneter Förderung
die «mitgebrachte» Intelligenz
sich verändert.
Umdenken -
«Damit begann ein Umden
ken, das allgemein erst im letz
ten Jahrzehnt Eingang in die
Diagnostik gefunden hat, näm-
Prof. Dr. med. Jürg Kesselring,
Chefarzt der Klinik Valens,
sprach über die Neurorehabili-
tation.
lieh all diese Merkmale der Per
sönlichkeit, das Leistungsver
halten, die Intelligenz, die Be
gabung, nicht als etwas Unver
änderliches, Angeborenes zu
sehen, sondern als Eigenheiten,
die sich von Situation zu Situa
tion ändern können (state de-
pended). So wandelte sich die
Trait-Psychologie zur State-
Psychologie.» In Feldstudien
habe er nachweisen können,
dass diese Zustandsabhängig-
keit mit folgenschweren Konse
quenzen auch für den Leis
tungsbereich gelte. «Der Ver
gleich der psychologischen
Testungen unter Neutralbedin
gungen (ruhige, entspannte
Atmosphäre) und der Realbt- A
lästung zeigte, dass manche^
Menschen einen Leistungs
verlust durchmachen (von
uns «Trainingsweltmeister» ge
nannt), während andere weit
besser abschneiden als in der
Testung unter Ruhebedingun
gen. Die bis dahin übliche psy
chologische Testung kann also
zu Fehlprognosen über die Leis
tungsfähigkeit unter Stressbe
dingungen führen. Wir schlu
gen daher ein neues diagnosti
sches Modell vor, in dem psy
chologische Testuntersuchun
gen sowohl unter Ruhe- wie
auch unter Belastungsbedin
gungen vorgenommen werden
und nannten diese Strategie:
Ergopsychometrie (Testung un
ter Belastung).»
Der schulische Bereich
Zahlreiche Arbeiten zeigten,
dass es möglich ist, durch er-
gopsychometrische Testungen
Trainingsweltmeister mit hoher
Treffsicherheit zu erfassen. Dies
eröffnete wichtige Nutzanwen
dungen in der beruflichen Eig
nungsuntersuchung (beispiels
weise nunmehr 10-jährige Er
fahrung in der Pilotenauslese)
plinären Arbeitens. Prof. Dr.
Erich Kirchler von der Univer
sität Wien referierte über «Psy
chologie ökonomischer Ent
scheidungen» (Thema seines
Buches «Wirtschaftspsycholo
gie», Göttingen). Er erläuterte
Problembereiche wie Entschei
dungen («wenn eine Vielzahl
von Bedürfnissen nach Befrie
digung drängt, und die verfüg
baren Ressourcen begrenzt
sind, muss entschieden werden,
welche Ressourcen wofür und
wie eingesetzt werden. Indivi
duen und Firmen sind ständig
damit konfrontiert, aus vielen
Alternativen eine auszuwählen
bzw. Entscheidungen zu tref
fen»); völlige Sicherheit könne
es dabei aber nur geben, wenn
Entscheidungsträger vollstän
dige Informationen über die
wählbaren Alternativen und
deren Konsequenzen hätten.
Allerdings seien die meisten
Entscheidungssituationen sehr
komplex und die Informations
menge überfordere die mensch
lichen Verarbeitungskapazitä-
Erbprinz Alois (rechts) in angeregter Unterhaltung mit Dr. Peter
Ritter.
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und im schulischen Bereich, al
so die Erfassung von Kindern,
die in Prüfungen und Schular
beiten meist unter ihrem
tatsächlichen Leistungsniveau
abschneiden. «Für solche Per
sonen ist freilich nicht nur die
Diagnose, sondern vor allem
eine Therapie wichtig. Wir fan
den diese durch einen Zweiten
möglichen Zugang - die Regis
trierung von physiologischen
Kennwerten. Die Aktivierung,
also der Grad der jeweiligen Er
regungsniveaus, wird nämlich
in einer Reihe von physiologi
schen Veränderungen sichtbar.
Diese Kennwerte können aber
nicht nur zur Diagnose ver
wendet werden, sondern auch,
um das Aktivierungsniveau ei
nes Menschen zu beeinflussen.
Gibt man ihm nämlich eine
Rückmeldung über diese Ver
änderungen («Biofeedback»),
kann jeder Mensch in kürzester
Zeit lernen, eine aktive Kon
trolle über seine Aktivierung
auszuüben. In grossen Studien
- an mehr als 1000 Kindern -
konnte nachgewiesen werden,
dass man auch schulische
Trainingsweltmeister zu einem
Leistungsanstieg unter Bela
stung führen kann. Diese Er
kenntnisse sind aber nicht zu
letzt auch für die Neurorehabi-
litation wichtig, wo wir in Zu
sammenarbeit mit Prof. Kessel-
ringj und Dr. Keller bereits
einige Forschungsarbeiten in
Valens durchführen konnten.»
Wie entscheiden?
Prof. Dr. Jürg Kesselring
zeigte in seinem Vortrag «Neu-
rorcthabilitation: Eine Brücke
zwischen Grundlagenwissen
schaften und klinischer Praxis»
den Nutzen des interdiszi
ten. Mit vielen konkreten Bei
spielen kam Erich Kirchler z. B.
über die Fehler bei der Informa
tionsverarbeitung oder die Ent-
scheidungsbeeinflussung durch
Streben nach Gewinnsicherung
zu verschiedenen und unter
schiedlichen Entscheidungs
modellen, je nachdem ob es
sich um entscheidende Grup
pen oder Individuen handelt.
Lernen lehren
Dr. Peter Theurl referierte
zum Thema «Schulisches Ler
nen in der digitalen Welt.» Die
immer schneller fortschreitende
Digitalisierung sei wohl eine
der folgenreichsten Entwick
lungen. Damit seien traditionel
le Berufe von der Bildfläche
verschwunden und neue ent-
stahden, d.h. dass Jugendliche,
die die Schule verlassen Berufe
vorfänden, die es bei ihrem
Schuleintritt noch nicht gab.
«Wenn die einzige Konstante
der immer schneller vor sich
gehende Wandel ist, geraten In
stitutionen wie Schulen in eine
ernsthafte Krise.» Das sich rasch
wandelnde Wissen habe Schu
len dazu gebracht, noch mehr
Lehrstoff in die Lehrpläne ein
zubauen, damit eine Auseinan
dersetzung mit Wissen zu ver
unmöglichen und die Persön
lichkeitsbildung zu vernachläs
sigen. «Die Schüler das Lernen
zu lehren und zwar sowohl in
instrumenteil-technischer Hin
sicht wie auch in motivationa-
ler, und ihnen die Möglichkeit
zu schaffen, vielfaltige Lerner
fahrungen zu machen, wäre da
her eine wirklich wichtige Auf
gabe.» Aufgrund des von Gisel
her Guttmann entwickelten Un
terrichtsmodells «Lernen unter
Selbstkontrolle (LUS)» wurde
1995 in Triesen die private Se
kundärschule «formatio» als
Modellschule für LUS gegrün
det. «Lernen unter Selbstkon
trolle, so wie es sich heute dar
stellt, ist eines jener Unter
richtskonzepte, mit deren Hilfe
das schulische Lernen und mit
ihm die Institution Schule und
die Krise, in der sie sich gegen
wärtig befindet, überwunden
werden kann.» Sehr ausführlich,
aber anscheinend nicht zur Zu
friedenheit aller Zuhörer, schil
derte Peter Theurl dann dieses
Unterrichtskonzept (Konzept
der Kerninformation, Selbst
kontrolle, Entspannung, schü
lerzentrierte Formen des Ler
nens, offenes Lernen, Projekt
unterricht, Computer und schu
lisches Lernen), denn in den auf
seinen Vortrag folgenden Fra
gen erklang einige Skepsis am
Unterrichtsmodell (z. B. ob aus
reichend Faktenwissen, wie es
die heutige Berufswelt verlange,
vermittelt werde). Am Ende des
Symposiums verabschiedete
Ren£ H. Melliger, Direktor der
LGT Bank in Liechtenstein und
Kanzler der neuen Universität,
die Gäste und hoffte, dass das,
was die Universität anstrebe.
Schulisches Lernen in der digi
talen Welt war das Thema des
Referenten Dr. Peter Theurl.
nämlich neue Ideen zu vermit
teln und wofür sie eigens ein
Kuratorium einrichten werde,
bei diesem Symposium erreicht
worden sei.
Prof. Dr. Jürg Kesselring und Reni H. Meiliger bei der Begrüssung
von Erbprinz Alois (von links). (Bilder: bak)