Liechtensteiner Volksblatt
Staatsfeiertag 2000
Donnerstag, 10. August 2(XKJ 23
«Unser Reichtum hat uns manche
vorhandene Sympathie gekostet»
Interview mit S.D. Prinz Nikolaus, Botschafter bei der EU, zur Zukunft unseres Landes
auch Probleme für unser Land oder
nicht? Kann durch diesen Wirtschafts
boom die gefundene Lösung zum freien
Personenverkehr mit der EU überhaupt
eingehalten werden?
Forciert man das
wirtschaftliche
Wachstum, erhöht
sich der Druck im
Immigrationsbereich.
Die Souveränität, d.h. die Autono
mie eigene Lösungen zu finden, stellt
in der heutigen Zeit viel höhere An
forderungen an die Politik als früher.
Seinerzeit waren die Zusammenhänge
in der Wirtschaft weniger international
und komplex. Dabei hat der EWR mit
seinen neuen Chancen die Anforde
rungen an die Wirtschaftspolitik be
sonders erhöht. Der EWR kann uns je
denfalls nicht die sich stellenden Zu
kunftsfragen sozusagen von selbst lö
sen: er gibt nur den rechtlichen Rah
men für einen grossen, uns interessie
renden Binnenmarkt ab. Er erleichtert
die Beziehungen zu einem grossen
Partner, nämlich der EU. Das richtige
Wirtschaftswachstum und die richtige
Richtung für unsere Wirtschaft in An
betracht unserer kleinen räumlichen
Verhältnisse müssen wir schon selbst
finden. Die notwendigen Instrumente
haben wir. z.B. Steuergesetzgebung,
Anforderungen an Banken-Neugrün
dungen, usw. Die Massnahmen dürfen
nur nicht diskriminierend und wettbe-
werbschädigend sein. Die Vereinba
rung für den freien Personenverkehr
gilt für die kommenden Jahre. Liech
tenstein hat die Autonomie dieser Re
gelung umzusetzen und somit nur ei
nen schwachen Zuzug zuzulassen. Es
liegt an uns und ist, wie in der Politik
allgemein, eine Abwägung der Vor-
unil Nachteile: forciert man das wirt
schaftliche Wachstum, erhöht sich der
Druck im Immigrationsbereich. Dies
ist keine gottgegebene Notwendigkeit.
Zum Beispiel können wir den Banken
ein stärkeres Korsett anlegen, damit
Bankengründungen uninteressanter
werden. Ich stelle fest.dass in den letz
ten Jahren von keiner Seite hierzu eine
grössere Diskussion angefangen wur
de. Wir haben in den 30 Jahren vor dem
EWR hohe Zuwachsraten in Wirt
schaft und Immigration gehabt - übri
gens hat sich das Verhältnis zwischen
wirtschaftlichem Zuwachs und Immi
gration zu Gunsten des ersteren in den
letzten Jahren verbessert. Einen Zu
sammenhang zwischen Wirtschafts
wachstum und Immigration wird es
aber immer geben, insbesondere bei
unseren tiefen Geburtenraten.
Eine kontrolliertere
Vergrösserung des
Finanzplatzes kann
ich mir schon noch
vorstellen, aber auf
anderen Grundlagen.
Spinnen wir das Rad einmal weiter: Es
kommen neue Banken und neue Unter
nehmen mit grossem Personalbestand
in unser Land Wir haben die Telekom
munikation liberalisiert, was ebenfalls
zu Personalzuwachs führen wird Zu
dem brauchen die neuen Banken und
Unternehmen Platz, Es werden viele
neue Gebäude errichtet. Vaduz, Schaan
und Triesen wachsen jetzt schon in
überproportionaler Weise. Das Ver
kehrsaufkommen wird dadurch sicher
auch nicht geringer. Werden wir in 30,
40 oder 50 Jahren ein zweites Monaco
sein, also eine Art Stadtstaat?
S.D. Prinz Nikolaus: «Heule haben wir einen Wildwuchs mit unseren 80 000 Gesellschaften. Manche Bereiche dieses Gesell-
schaftwesens bringen unserer Volkswirtschaft fast nichts und stellen uns vor enorme Aufsichtsproblenw.»
Dies hängt weitgehend davon ab,
welche politischen Entscheide wir fäl
len. Natürlich können wir die nicht
ganz isoliert von der internationalen
Entwicklung machen. Es braucht aber
in erster Linie der politischen Diskussi
on bei uns, abgestützt auf Expertenar-
beil. Eine kontrolliertere Vergrösse
rung des Finanzplatzes kann ich mir
schon noch vorstellen, aber auf ande
ren Grundlagen: es bedarf einer stärke
ren Spezialisierung, die auf europäi
sche und globale Entwicklungen Rück
sicht nimmt. Heute haben wir einen
Wildwuchs mit unseren 80 (MM) Gesell
schaften. Manche Bereiche dieses Ge
sellschaftwesens bringen unserer
Volkswirtschaft fast nichts und stellen
uns vor enorme Aufsichtsprobleme.
Wir müssen uns auf das gute, seriöse
Geschäft konzentrieren. Beibehaltung
des Bankgeheimnisses ja, aber weniger
davon abhängig sein. Das bedeutet
auch stärkere Diversifizierung im
Dienstleistungsbereich. Wir brauchen
ein Wirtschaftsleitbild, das hohen ethi
schen Anforderungen gerecht wird und
den Gegebenheiten unseres Landes
entspricht. Dazu gehört auch der
Schutz der Umwelt. Eine Verdoppe
lung der liechtensteinischen Bevölke
rung in den kommenden Jahren wäre
für mich keine glückliche Variante. An
dererseits platzen wir auch noch nicht
aus allen Nähten. Wir brauchen nicht in
eine Alarmsituation zu verfallen.
Sie haben bereits betont, dass der Bun
desrat der Schweiz den EU-Beitritt als
Ziel formuliert hat. Welche Auswir
kungen hätte ein etwaiger EU-Beitritt
der Schweiz? Wäre er gleichbedeutend
mit dem Ende des Zollvertrages?
Bei einem EU-Eintritt der Schweiz
würde ihre Kompetenz zum Abschluss
von Zollverträgen auf die EU überge
hen. Verhandlungen mit der EU wären
also jedenfalls notwendig. Ein Zollver
trag mit der EU, wie es z.B. auch An
dorra und San Marino haben, wäre
demnach die naheliegendste Lösung.
Eine autonomere Lösung, nur mit Frei-
handelsverlrägen, wäre theoretisch
ebenfalls denkbar.
Ich frage mich aber,
ob der Zollvertrag mit
der Schweiz in
absehbarer Zeit nicht
jedenfalls
mooernisierungs-
bedürftig ist.
Wenn die EU dies genehmigen wür
de, könnte der bestehende Zollvertrag
auch von ihr einfach übernommen
werden. Ich frage mich aber, ob der
Zollvertrag mit der Schweiz, in abseh
barer Zeit nicht jedenfalls modernisie
rungsbedürftig ist. Vielleicht sollte die
se Frage mit der Schweiz in den nächs
ten Jahren diskutiert werden - unab
hängig von einem eventuellen EU-
Beitritt.
In welchen Bereichen sehen Sie Anpas
sungsbedarf?
Der Zollvertrag ist bald 80 Jahre alt.
Er geht von einer Wirtschaftsrealität
aus, die es heute nicht mehr gibt. Den
ken wir nur an die lnternationalisie-
rung des Wirtschaftsaustausches. Ent
sprechend altmodisch und interpretie-
rungsbedürftig sind die verwendeten
Ausdrücke. Was der Vertrag umfasst,
bzw. was er nicht umfasst, würde man
heute klarer abgrenzen. Die institutio
nelle Arbeitsteilung zwischen den bei
den Partnern gehört im Lichte der po
litischen Entwicklungen der letzten
Jahrzehnte etwas überarbeitet. Seine
Grundfunktion als ein Eckstein der
engen Beziehungen zur Schweiz und
zur Regelung der offenen Grenze soll
te aber durch eine eventuelle Neufor
mulierung unangetastet bleiben. Eine
stärkere Öffnung der Grenze zu
Österreich, unseren anderen Nach
barn, und damit zur EU, wäre natür
lich auch gut. Der EWR hat schon ei
niges dahin gewirkt. Bessere Lösun
gen sind aber wünschbar, denn, ver
gessen wir nicht,der EU-Binnenmarkt
entwickelt sich auch ausserhalb des
EWR weiter.
Bei einem Interview zur Zukunft unse
res Landes kommt man momentan an
der Verfassungsfrage nicht herum. Wie
beurteilen Sie die gegen wärt ige Situati
on bezüglich der Veifassungsfrage?
Ein Klärungsbedarf in der Verfas
sung besteht, insbesondere die Rolle
des Monarchen. Selbst innerhalb derje-
niger, die die Verfassung nicht ändern
wollen, gibt es erhebliche Interpretati
onsunterschiede bei einzelnen Arti
keln. Der Fürst hat klare Vorstellungen
und Fragestellungen formuliert. Die
Frage ist nun, wie man diesen Prozess
zu Ende bringt. Ein Dialog, mit oder oh
ne Abstimmung, wird immer notwendig
sein. Ein grosser Trugschluss wäre es,da
bei auf ausländische Modelle abzustel
len. Vieles ist bei uns historisch anders
gewachsen und wie auch andere Klein
staaten zeigen, bringen diese ganz an
dere politische Bedingungen mit sich,
als grössere Staaten. Zwei Aspekte sind
jedenfalls zu beachten: einmal die Rol
le der fürstlichen Familie, die kaum mit
der anderen Monarchie vergleichbar
ist. Jede Lösung wird daher von einer
erheblichen Autonomie der fürstlichen
Familie ausgehen müssen. Zum zweiten
bedarf es einer klaren Kompetenzver
teilung zwischen Monarchen und den
demokratischen Organen. Entweder er
spielt eine wesentliche Rolle im Ge
schehen des Landes - nicht nur formale
Kompetenzen,die faktisch von anderen
ausgeübt werden - oder wir haben ein
weitgehend repräsentatives Staatsober
haupt und die Staatsmacht liegt bei an
deren Staatsorganen, die dann aber
auch die volle Verantwortung tragen
müssen. Es geht um eine grundsätzliche
Diskussion und nicht um taktische Posi
tionen.
Ihre Ausführungen würden bedeuten,
dass in Liechtenstein in den letzten 12
Monaten die Diskussion zur Veifas
sungsfrage falsch geführt wurde. In
Liechtenstein wurde viel mehr über
einzelne Vorschläge diskutiert als über
die von Ihnen genannte grundlegende
Frage.
Jedenfalls sollte die
Verfassungsfrage in
absehbarer Zeit, mit
oder ohne
Abstimmung, gelöst
werden. Liechtenstein
steht vor grösseren
Herausforderungen.
Ich glaube, der Landesfürst hat die
hauptsächliche Frage in den Raum ge
stellt. Kritiker mögen sogar sagen, dass
er dies mit der Ankündigung eventuell
nach Wien umzuziehen, zu brutal ge
macht hat. Eine grundsätzliche Ausein
andersetzung über die fürstlichen Kom
petenzzuteilungen habe ich. zumindest
als Aussenstehender, nur in sehr gerin
gem Masse erkennen können. Man hat
sich dann aber lange darüber unterhal
ten, ob die dieses Jahr vom Fürsten und
vom Erbprinzen vorgeschlagene Ver
fassungsrevision ein Demokratiedefizit
gegenüber der heutigen bedeuten wür
de - eine eher unergiebige Diskussion,
nachdem die Interpretation der Kom
petenzzuteilung in unserer heutigen
Verfassung zu einer Kakophonie auszu
arten droht. Die Fragestellung hätte
wohl eher sein sollen: Was dient unse
rem Land? Wie lassen sich anstehende
politische Probleme lösen? Wo liegt das
richtige Gleichgewicht zwischen mo
narchischem und demokratischem Ele
ment? Welches Gewicht gebe ich der di
rekten Demokratie? Jedenfalls sollte
die Verfassungsfrage in absehbarer
Zeit, mit oder ohne Abstimmung,gelöst
werden. Liechtenstein steht vor grösse
ren Herausforderungen.