Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2000)

Liechtensteiner Volksblatt 
Staatsfeiertag 2000 
Donnerstag, 10. August 2(KK) 13 
«Wir müssen uns eingestehen, dass wir 
nicht alles machen können» 
Gespräch zwischen Peter Wolff, Marco Ospelt und Paul Vogt zur zukünftigen Entwicklung Liechtensteins 
l'attl Vogt; «Ich denke, dass Liechtenstein als Kleinstaat eine Zukunft hat, solange wir nicht überborden. Kleinstaaten haben 
gerade in Europa eine lange Tradition.» 
her Leute zuwandern müssen. Das 
Problem besteht nun darin, wie man die 
sen Konflikt lösen kann. Die Mehrheit 
der Bevölkerung dürfte aus psychologi 
schen Gründen eine Zuwanderung ab 
lehnen. Auf der anderen Seite steigt der 
Bedarf an Arbeitskräften ständig an. Da 
gibt es sicher keine einfachen Lösungen 
und keine Patentrezepte. Wir müssen 
uns mit diesen Fragen auseinanderset 
zen und in unseren Köpfen umdenken. 
Die Zuwandcrer bringen Bedürfnisse 
mit und sie erheben Anspruch auf poli 
tische Rechte in unserem Land. Wir 
werden auch, was die Flüchtlingspolitik 
betrifft, in Zukunft vor einem Problem 
stehen. Ich gehe davon aus, dass wir 
auch in Zukunft aufgefordert sind, dies 
bezüglich eine liberale und offene Poli 
tik zu betreiben. 
Marco Ospelt: Die Ausländerpolitik 
ist ein sehr heikles Thema. Die Abstim 
mung zur Einbürgerung alteingesesse 
ner Ausländer hat das deutlich gezeigt. 
Regierung, Landtag und Parteien waren 
der Meinung, ein restriktives Gesetz 
vorgeschlagen zu haben, so dass es in 
der Bevölkerung weitestgehende Zu 
stimmung finden könnte. Da wurden 
wir auf den Boden der Realität zurück 
geholt. Dies zeigt, dass wir uns in dieser 
Frage auf sehr sensiblem Boden bewe 
gen. Ich denke, dieser ganze Diskurs um 
die Ausländerpolitik und die Wirt 
schaftsentwicklung zeigt, dass wir sehr 
nahe an unsere Grenzen gelangen. Es 
zeigt auch, dass wir dieses Problem nicht 
einfach der Wirtschaft überlassen kön 
nen. Ich stimme Ihnen zu. Herr Wolff, 
dass die Zahl von 56 Personen spielend 
erreicht sein wird. Das ist eine nach 
oben offene Skala, die zu einem Erdbe 
ben führt, wenn sich die Bevölkerung 
damit und somit mit dieser Entwicklung 
nicht identifiziert. 
Ich sehe uns an einem 
Scheideweg, wo wir 
die Wahl haben, 
grössenwahnsinnig 
weiterzumachen wie 
bisher oder uns 
offensiv unserer 
Identität zu stellen. 
Es gibt Stimmen, die sagen, dass die 
ausländischen Arbeitskräfte im angren 
zenden Ausland deponiert werden sol 
len. Andererseits gibt es Statistiken, die 
von 10000 neuen Einwohnern in den 
nächsten 10 Jahren ausgehen. Hier 
kommen doch durch diese Entwicklung 
grundlegende Probleme auf uns zu. 
Peter Wolff: Ja sicher. Die Probleme 
würden noch viel schneller und unbe- 
wälligbarer auf uns zukommen, wenn 
man sagen würde, dass man diejenigen, 
die im angrenzenden Ausland wohnen, 
in unser Land holt. Da muss man von 
Fall zu Fall, sprich von Jahr zu Jahr, se 
hen, wie man das machen kann. In die 
ser Hinsicht bin ich vielleicht zu sehr 
Realist und zu wenig Idealist. Ich sehe 
nicht, wie man diesbezüglich einen gros 
sen Plan erarbeiten kann, nach welchem 
man sagen kann: wir machen es die 
nächsten zehn Jahre so oder so. Das se 
he ich als unrealistisch an. 
Paul Vogt: Peter Wolff hat diesbezüg 
lich schon eine fast resignative Haltung. 
Ich glaube schon, dass gerade wir als Po 
litiker versuchen müssen, die Zukunft 
bewusst zu gestalten. Wir müssen uns 
eingestehen,dass wir nicht alles machen 
können. Wir müssen auch bereit sein, 
bewusst zu entscheiden und einen Weg 
wählen. Dann stellt sich die Frage: Was 
wollen wir eigentlich? Wollen wir ein 
Land der unbeschränkten Möglichkei 
ten sein? Dann heisst es, Zuwanderung 
zu akzeptieren, damit die Industrie und 
der Finanzplatz immer weiter boomen 
können. Oder wollen wir durch gesetzte 
Massnahmen und eine bewusste Politik 
die Zukunft unseres Landes in eine be 
stimmte Richtung lenken? Dann müs 
sen wir zwischen verschiedenen Alter 
nativen entscheiden. 
Themawechsel: Das Verhältnis zur 
Schweiz wird diesen Spätsommer bei 
der LSVA-Abstimmung sicher Gegen 
stand der Diskussion sein. Wie beurtei 
len Sie das Verhältnis zur Schweiz, Herr 
Ospelt'.' 
Marco Ospelt: Ich höre von der Re 
gierung immer wieder, dass unser Ver 
hältnis zur Schweiz so gut wie noch nie 
sei. Ich bemerke jedoch andererseits, 
dass sich die Beziehungen, die auf ver 
schiedenen Ebenen gespielt haben, 
gelockert haben. Das Zusammenspiel 
zwischen beiden Staaten spielt sich, zu 
mindest von aussen betrachtet, nicht 
mehr so selbstverständlich ab. Nach aus 
sen kommt eine Abkühlung des Ver 
hältnisses zum Ausdruck. Dies sowohl 
von Vertretern auf Seiten der Schweiz 
als auch von Vertretern von Seiten 
Liechtensteins. Als Bürger stelle ich 
fest, dass die selbstverständliche Unter 
stützung, welche die Schweizer Behör 
den unserem Land bisher gewährt ha 
ben. nicht mehr da ist. Ich habe ein we 
nig das Gefühl, diese Freundschaft wird 
nicht gepflegt, sondern schöngeredet. 
Peter Wolff: Ich habe eher den Ein 
druck, dass gewisse Leute in unserem 
Land krampfhaft versuchen, die Bezie 
hung zur Schweiz krank zu reden. Das 
finde ich nicht notwendig. Ich finde auch 
nicht, dass die Beziehung schlecht ist. 
Ich finde, dass die Aussage der Regie 
rung, dass die Beziehung noch nie so gut 
gewesen sei, sicher auf die unmittelbare 
Beziehung unserer Regierung zum 
Bundesrat zutrifft. Diese Beziehungen 
sind so häufig und eng, wie noch nie. Un 
geachtet dessen gibt es Entwicklungen, 
die zwangsläufig mit dem Erwachsen 
werden unseres Landes zusammenhän 
gen. Das hat mit einem gewissen Abna- 
belungsprozess zu tun. Dort sind wir al 
le gefordert. Bei jeder Beziehung zur 
Schweiz, sei es geschäftlich, privat oder 
politisch, dürfen wir auf der Schweizer 
Seile nicht den Eindruck erwecken,dass 
wir hochmütig oder arrogant seien. Das 
ist eine Gefahr, welcher wir alle entgeg 
nen müssen. Auf unserer Seite ist Be 
scheidenheit am Platze, damit auf 
Schweizer Seite nicht negative Einstel 
lungen gegen unser Land hervorgerufen 
oder gefördert werden. 
Das Thema 
Raumordnung hat 
sicher auch etwas 
damit zu tun, was 
Liechtenstein 
lebenswert macht. 
Paul Vogt: Ob die Beziehungen zum 
Bundesrat besser als je zuvor sind, kann 
ich nicht beurteilen. Ich denke, dass man 
feststellen muss, dass sich die Beziehun 
gen verändert haben. Liechtenstein hat 
dies selber so gewollt, indem wir Verträ 
ge mit der Schweiz, die wir jahrzehnte 
lang hatten, gekündigt haben. Als Bei 
spiel hierfür stehen der Postvertrag und 
die Telekommunikation. Teilweise ha 
ben wir auch bei der Mehrwertsteuer ei 
ne eigene Lösung gesucht. Aussenpoli- 
tisch haben wir ebenfalls mehr Selbst 
ständigkeit gezeigt. Das hat alles dazu 
beigetragen, dass man das Gefühl hat, 
das Verhältnis zur Schweiz habe gelit 
ten. Dadurch, dass Liechtenstein mehr 
Selbstständigkeit zeigt, werden wir in 
der Schweiz auch anders wahrgenom 
men. Es ist heute nicht mehr so, dass wir 
als Schweizer Kanton angesehen wer 
den, sondern wir werden als eigener 
Staat behandelt. Dies war vor 20 Jahren 
nicht der Fall. Das bringt auch mit sich, 
dass sich die Schweiz gegenüber uns in 
manchen Fragen kritischer verhält. Wir 
haben diese Änderungen von uns aus 
herbeigeführt, weil wir auf unseren ei 
genen Nutzen und Vorteil bedacht wa 
ren. Wir haben in einigen Bereichen, wie 
beispielsweise bei der Telekommunika 
tion, Gewinnmöglichkeiten gesehen, 
auch wenn es schlussendlich anders he 
rausgekommen ist. Zu bedauern ist si 
cher auch, dass die Aktivitäten der Ge 
sellschaft Schweiz-Liechtenstein klei 
ner geworden sind. 
Marco Ospelt: Für mich ist die eine 
Frage, was man tut, und die andere Fra 
ge, wie man es tut. Wir haben einige 
Handlungen mindestens mit dem Ges- 
tus der Überlegenheit gesetzt. Ich glau 
be, das Wie war entscheidend. Es ist 
durchaus legitim, dass die Schweiz als 
Staat die Interessen der Schweiz ver 
tritt. Ich glaube jedoch, dass das Ver 
hältnis zur Schweiz auf einer anderen 
Ebene abgelaufen wäre, wenn dieser 
kleine Zwerg nicht so gross getan hätte. 
Dann hätten wir beispielsweise von ei 
nem Schweizer Diplomaten einen Wink 
oder einen Hinweis erhalten, dass 
Liechtenstein wegen dieser oder jener 
Kriterien zur Diskussion steht. Wir hät 
ten dann früher die Gelegenheit gehabt, 
aufgrund von Informationen früher zu 
reagieren. 
Zum Abschluss möchte ich an jeden 
von Ihnen die Frage stellen: Welche 
Rolle kann und soll ein Kleinstaat wie 
Liechtenstein in Zukunft übernehmen? 
Peter WollT: Ich glaube, dass der 
Kleinstaat gerade in Europa eine Zu 
kunft hat. Er darf seine Rolle als Klein 
staat nur nicht so auffassen, dass er sich 
total abschotten kann. Überall dort, wo 
ein Mitmachen gefragt ist, soll man auch 
mitmachen. Eine gewisse Offenheit soll 
er zeigen. Man muss auch dort mitma 
chen, wo es gewisse Opfer fordert. Dann 
glaube ich, dass der Kleinstaat, nicht im 
Sinne des absoluten in jeder Hinsicht 
souveränen Nationalstaates, aber als 
Gebilde mit einer beschränkten Souve 
ränität durchaus lebensfähig ist. Wir 
dürfen nicht vergessen, dass wir nicht 
ein normaler Kleinstaat sind. Wir sind 
ein Kleinststaat. Im Ausland kann sich 
nämlich niemand vorstellen, dass man 
mit rund 32000 Einwohnern einen Staat 
betreiben kann. Das ist auch nicht leicht. 
Deshalb sollten wir nie vergessen, dass 
wir uns glücklich schätzen dürfen, dass 
wir schon so lange als eigener Staat exis 
tieren. Wenn wir uns unserer Kleinheit 
mit den beschränkten Möglichkeiten 
und mit den Abhängigkeiten von den 
Nachbarn und Freunden bewusst sind, 
glaube ich, dass wir in Zukunft gute 
Möglichkeiten haben zu bestehen. 
Wir brauchen auch 
die Besinnung darauf, 
dass wir eine eigene 
Kultur und eine lange 
Geschichte haben. 
Marco Ospelt: Ich sehe uns an einem 
Scheideweg. An einem Scheideweg, wo 
wir die Wahl haben, grössenwahnsinnig 
weiterzumachen wie bisher oder uns of 
fensiv unserer Identität zu stellen. Wenn 
wir so weitermachen, ist, so glaube ich, 
unsere Existenz innerhalb diesem Euro 
pa in Frage gestellt. Wenn wir wirklich 
darüber diskutieren, was unsere Exis 
tenz ist, und wir darüber diskutieren, 
was die Lebensqualität in einem Klein 
staat ausmacht und diese Lebensqua 
lität pflegen, dann sehe ich durchaus ei 
ne Zukunft für den Kleinstaat Liechten 
stein. Wir müssen aber auch daran den 
ken, Europa etwas zurückzugeben. 
Hierbei denke ich beispielsweise an 
Friedensforschung und Katastrophen 
hilfe. Wir profitieren nämlich ebenfalls 
von diesem Europa. Als Letztes möchte 
ich noch erwähnen, dass wir gerade als 
Kleinstaat mehr Demokratie wagen 
sollten. Die demokratischen Institutio 
nen.zu welchen wirgehören.sollten sich 
immer wieder überlegen, wie die Demo 
kratie gestärkt werden kann. Ich könnte 
mir hierzu zum Beispiel vorstellen, dass 
wir zur Direktwahl der Regierung kom 
men könnten, um die Verquickung von 
Legislative und Exekutive, die uns im 
Landtag schon Probleme gemacht hat, 
aufzuheben und die Aufgaben dieser 
beiden Institutionen noch klarer zu 
trennen und zuzuordnen. 
Paul Vogt: Ich denke, dass Liechten 
stein als Kleinstaat eine Zukunft hat, so 
lange wir nicht überborden. Kleinstaa 
ten haben gerade in Europa eine lange 
Tradition. Es gibt auch keine Diskussion 
um die Existenzberechtigung von Klein 
staaten mehr. Gerade als Finanzplatz 
haben wir erlebt, wie schlecht das Image 
werden kann. Wir sind mit der Nase da 
rauf gestossen worden, dass wir nicht 
auf Kosten anderer leben dürfen. Man 
verlangt von uns zu Recht, dass wir uns 
gegenüber dem Ausland solidarisch ver 
halten. Wir müssen in Zukunft zeigen, 
dass wir ein gutes internationales Ni 
veau haben. Bezüglich Innenpolitik 
wird es eine grosse Herausforderung 
sein, als Kleinstaat zu bestehen. Dies 
braucht Substanz. Wir müssen wissen, 
weshalb wir ein eigener Staat sein wol 
len. Dies kann nicht nur wegen dem ma 
teriellen Vorteil sein. Das alleine reicht 
nicht. Wir brauchen auch die Besinnung 
darauf, dass wir eine eigene Kultur und 
eine lange Geschichte haben. Damit 
müssen wir uns beschäftigen, damit wir 
glaubwürdig darlegen können, dass wir 
ein eigener Staat sein wollen. Der wirt 
schaftliche Vorteil kann alleine sicher 
nicht der Grund sein.
	        

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