Liechtensteiner Volksblatt
Staatsfeiertag 2000
Donnerstag, 10. August 21XX) 9
«Ich glaube, dass der Kleinstaat gerade
in Europa eine Zukunft hat »
Gespräch zwischen Peter Wolff, Marco Ospelt und Paul Vogt zur zukünftigen Entwicklung Liechtensteins
l'eter Wolff: «Es wird eine der griissten Knacknüsse der nächsten fünf bis zehn Jahre sein, ein wirksames Raumplanungsrecht
zu bekommen.»
Die Zukunft Liechtensteins - zu
einem Gespräch über diese The
matik lud das Liechtensteiner
Volksblatt die drei Landtagsabge
ordneten Peter Wolff, Marco Os
pelt und Paul Vogt ein. Es ent
stand eine interessante Diskus
sion, bei welcher verschiedene
Aspekte über anstehende Proble
me angesprochen wurden. Es kam
zum Ausdruck, dass Liechtenstein
so rasch als möglich eine
Raumordnung benötigt, damit die
Entwicklung zu einem Stadtstaat
verhindert werden kann.
Das Gespräch mit den Abgeordneten
leitete Alexander Batliner
VOLKSBLATT: Herr Landtagspräsi
dent, Liechtenstein feierte vor wenigen
Monaten den 5. Geburtstag des EWR.
Was ist Ihr Resümee von 5 Jahren
EWR?
Pcler Wölfl: Der Verlrag hat sich mei
nes Erachtens grundsätzlich bewährt.
Ich glaube, wir stünden, was die Zu
kunftsaussichten betrifft, wesentlich
schlechter da, wenn wir damals nicht
beigetreten wiiren. Negative Auswir
kungen hal es eigentlich nur indirekt ge
geben, indem nämlich der EWR-Beitritt
einen Wirlschaflsboom auch und gerade
beim Finanzdienstleislungssektor aus
gelöst hat, den eigentlich niemand er
wartet hatte, und der uns vielleicht ra
scher, als es sonst der Fall gewesen wäre,
auf gewisse unangenehme Punkte hin
geführt hal. Das ist jetzt nicht eine Ur
sache durch den EWR. Wenn es aber
diesen Wirlschaflsboom nicht gegeben
hätte, dann glaube ich nicht, dass solche
Reaktionen so bald gekommen wären.
Die EWR-Milglicdschaft Liechten
steins ist für sich alleine betrachtet nach
wie vor uneingeschränkt zu bejahen.
Ein Stadtstaat sollten
wir auf keinen Fall
werden - dies
bezüglich müssen
gesetzgeberische
Riegel vorgeschoben
werden.
Marco Ospelt: Ich glaube auch, dass
sich der EWR bewährt hat. Erstaunli
cherweise hat er sich gerade beim Fi-
nanzdienstleistungsplatz bewährt, ob
wohl man eine positive Auswirkung
eher auf die Industrie erwartet hatte.
Dort hat er sich langsamer als beim Fi
nanzdienstleistungssektor entwickelt.
Probleme bestehen vielleicht im Be
reich des Gewerbes. Da spielt aber eher
die WTO eine wichtigere Rolle als der
EWR. Probleme gab es hingegen bei der
Umsetzung. Es war doch eine enorme
Anstrengung notwendig, die Gesetzes
anpassungen zu bewerkstelligen. In
Zukunft sehe ich aber im Zusammen
hang mit dem EWR ein ganz anderes
Problem, und zwar die Entwicklung des
EWR an sich. Es stellt sich die Frage,
was die anderen Mitglieder des EWR
machen - konkret Island und Norwe
gen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir
eine Entwicklung ähnlich der Schweiz
in die Wege leiten - mit bilateralen Ver
trägen mit der EU. Für uns stellt sich
natürlich die Frage, was macht unser
wichtigster Partner, die Schweiz, im Zu
sammenhang mit der EU. Heule zeigen
sich bereits verschiedene Tendenzen.
Die Schweiz hat sich durch die bilatera
len Verträge eine sehr komfortable Si
tuation unter weitestgehender Beibe
haltung ihrer Souveränität erarbeitet.
Dann müssen wir auch die Probleme
beim Finanzdienstleistungsboom be
trachten, welche zum Teil durch den
EWR entstanden sind. Unser Finanz-
dienstlcistungsplatz ist nicht nur für das
Ausland, sondern auch für uns zu
schnell gewachsen. Hinzu kommt noch,
dass wir für die Umsetzung der Kontrol
le des Finanzplatzes bei der Polizei und
bei den Gerichten mehr Personen brau
chen. Wenn ich an diese Probleme den
ke. frage ich mich einerseits, ob wir mit
bilateralen Verträgen zusammen mit
der Schweiz viele Probleme nicht ge
habt hätten, die wir jetzt haben. Vor al
lem frage ich mich, ob der EWR ein
Auslaufmodell ist und wir uns nicht
überlegen müssen: Wie weiter Klein
staat? Wenn wir dann nämlich alleine in
einem EWR sind, dann glaube ich nicht,
dass unser grösserer Partner EU mit uns
ein solch kompliziertes Regelwerk auf
rechterhalten wird. Dann werden wir
vor der schwierigen Frage stehen, dass
wir eine eigenständige Lösung mit der
EU finden müssen. Dies vielleicht auf
der Basis der bilateralen Verträge der
Schweiz, mit der EU.
Paul Vogt: Für mich ist es bei weitem
nicht so klar, dass die Ursache des Wirt
schaftsbooms allein beim EWR zu su
chen ist, es ist meines Erachtens die De
regulierung insgesamt. Dies hat auch ei
ne Untersuchung von Heiko Prange am
Liechtenstein-Institut gezeigt. Die be
troffenen Wirtschaftsverbände schrei
ben den Wirtschaftsboom auch nicht
ausschliesslich dem EWR zu. Da vor al
lem der Finanzdienstleislungssektor
boomt, zeigt, dass es nicht nur eine Fra
ge des EWR-Beitrittes ist. Der EWR
hal sicher eine Auswirkung gehabt, aber
es war nicht nur der EWR-Beitritt. Ich
möchte auch relativieren, dass wir keine
Probleme haben. Es ist erstaunlich gut
gelungen, den EWR umzusetzen. Dies
betrifft in erster Linie die staatliche Sei
te. Wir haben diese riesige Herausforde
rung, das EWR-Recht umzusetzen, er
staunlich gut gemeistert. Rückblickend
kann man feststellen, dass der EWR
grössenverträglich ist, was im Voraus
stark bezweifelt wurde. Wir haben
mehrheitlich vom EWR profitiert und
wir haben mehrheitlich Gewinner durch
den EWR.
Unser
Finanzdienstleistungs
platz ist nicht nur für
das Ausland, sondern
auch für uns zu
schnell gewachsen.
Es gibt aber sicher auch Verlierer.
Hierzu gehören vor allem die freien
Berufe wie Ärzte, Architekten, Rechts
anwälte und andere, die jetzt keine ge
schützten Nischen mehr haben und so
mit stärker dem Wettbewerb ausgelie
fert sind. Wir haben nun auch im freien
Personenverkehr eine Lösung erhal
ten, die für uns voraussichtlich tragbar
ist. Eis ist jedoch keine definitive Lö
sung und es bestehen weiterhin offene
Fragen. Zum Beispiel die Frage, wie
diese Lösung in der Praxis überhaupt
umgesetzt werden kann. Zudem gibt es
auch psychologische Probleme. Viele
Leute haben den Eindruck, dass sich
seil dem EWR-Beitritt die Beziehun
gen zur Schweiz verschlechtert haben.
Die Regierung dementiert dies bei je
der Gelegenheit. Sie betont, dass die
Beziehungen noch nie so gut waren wie
jetzt. Ich habe aber den Eindruck, dass
die Beziehungen zur Schweiz gelitten
haben, zumindest haben sie sich geän
dert. Bis vor kurzem konnten wir uns
hinter dem Rücken der Schweiz ver
stecken, wenn es darauf ankam. Dies
war gerade auch bei Diskussionen um
den Finanzplatz der Fall. Dies ist jetzt
nicht mehr so.
Der Wirtschaftsboom hat zur Folge,
dass die Anzahl Banken in unserem
Land ständig ansteigt und sich auch
andere Unternehmungen bei uns ansie
deln. Diese Unternehmungen und Ban
ken brauchen Platz und Personal. Wie
viel Wirlschaflsboom verträgt ein
Kleinstaat wie Liechtenstein?
Peter Wolff: Vielleicht bin ich etwas
blauäugig. Ich gehe davon aus, dass dies
der Markt und nicht zuletzt auch das zur
Verfügung stehende Personal regeln
wird. Umein extremes Beispiel zu sagen:
Es ist sicher nicht genug Platz und Fach
personal in Liechtenstein und in der Re
gion vorhanden, um zum Beispiel l(X)
Banken in Liechtenstein zu betreiben.
Mit den heute 16 konzessionierten geht
es gerade noch. Je nachdem wie gross
diese ihre Geschäftstätigkeit hier aufzie
hen, wird es auch noch ein paar mehr
vertragen. Irgendwo wird sich dies ganz
automatisch regeln, da einfach keine
Leute mehr da sein werden. Es sei denn,
man wirbt sich gegenseitig zu immer
höheren Löhnen die Fachleute ab. Eine
gesetzliche Beschränkung, indem man
beispielsweise sagt, dass es nur 20 Ban
ken geben dürfe, kann ich mir nicht vor
stellen. Dies wäre sicher EWR-widrig.
Paul Vogt: Ich finde es wirklich ein
wenig blauäugig, dass der Markt dies re
gulieren soll. Wir haben heute bereits ei
ne absurde Situation. Es wurde bereits
vor 20 Jahren als absurd bezeichnet,
dass ein Staat eine Wirtschaft hat, für die
er nicht genügend eigene Arbeitskräfte
hat. Es ist auf die Dauer ein völlig unlo
gischer Zustand, dass man die Bedürf
nisse der Industrie und der Wirtschaft
vor allem mit Grenzgängern abdeckt. Ir
gendwo müsste es ein Gleichgewicht
zwischen der einheimischen Bevölke
rung und dem Personalbedarf der Wirt
schaft geben. Sich auf Dauer darauf ein
zurichten, dass jeden Tilg Tausende von
Grenzgängern über die Grenze kom
men, hier arbeiten und am Abend wie
der zurückkehren, erscheint mir auf
Dauer als unhaltbarer Zustand. Ich sehe
es auch nicht so, dass man über ein Ge
setz die Obergrenze an Banken regulie
ren kann. Es ist aber sicher möglich,dies
durch andere Massnahmen zu regeln.
Voraussetzung wäre allerdings, dass wir
einmal Ideen entwickeln, wie unsere
Wirtschaft überhaupt aussehen soll. Ich
erachte es als grosses Manko, dass man
keine formulierte Wirtschaftspolitik hat
und dass man sich keine Vorstellungen
macht, wie die Wirtschaft in Liechten
stein überhaupt aussehen soll. Es wird
nicht formuliert, was für uns gut ist und
was wir brauchen. Man lässt einfach al
les treiben.
Es ist auf die Dauer
ein völlig unlogischer
Zustand, dass man die
Bedürfnisse der
Industrie und der
Wirtschaft vor allem
mit Grenzgängern
abdeckt.
Marco Ospelt: Es geht die Meinung
um, der Markt allein könne regeln, wie
sich die Wirtschaft entwickle. Ich halte
dies für nicht machbar. Ich denke nicht,
dass sich unsere Gesellschaft als Ganzes
den Marktkräften ausliefern sollte. Ich
finde aber auch nicht, dass die Politik
quasi von oben herab durch Gesetze re
geln sollte, welche Richtung die Wirt
schaft einschlagen und welche Wirt-
schaftsentwicklung für uns zuträglich
sein soll. Ich finde, diesbezüglich
braucht es eine intensive öffentliche
Diskussion. Da müssen wir versuchen,
zu einer vorausschauenden Politik zu
gelangen. Wir müssen versuchen, uns
unserer Bedürfnisse klar zu werden, um
dann zu sehen, wie wir die Bedürfnisse
abdecken können. Dieser ganze materi
elle Wohlstand, den wir haben und den
wir geniessen und nicht missen wollen,
hat uns nicht geholfen, uns über unsere
Raumordnung klar zu werden. Wie wol
len wir unseren Raum gestalten? Sollen
wir ein Stadtstaat werden? Wie sehen
wir die Siedlungsenlwicklung im Zu
sammenhang mit dem Personal, das un
serer Wirtschaft zur Verfügung stehen
soll? Wie soll sich dann unsere Bevölke
rungentwickeln? Das sind Fragen, die in
der Gesellschaft ganz intensiv und öf
fentlich diskutiert werden müssen. Wir
müssen endlich zu einer Diskussionspo
litik gelangen, wo jeder sich einbringen
kann und wo jeder auch ernstgenom
men wird, wenn er sich einbringt. Natür
lich kann sich heute schon jeder ein
bringen. Das ist ja ein Vorteil einer klei
nen Gesellschaft. Irgend etwas scheint
aber nicht zu funktionieren.Tatsache ist,
dass sich sehr wenig Leute einbringen.
Da müssen wir einmal über die Bücher
gehen und fragen: Was läuft da falsch?
Ich habe eher den Eindruck, dass viele
ihre individuellen Interessen verfolgen
und sich auf ihr privates Leben zurück
ziehen und das Engagement in der Öf
fentlichkeit darunter leidet. Ich denke,
da geht es dann auch darum, dass die In
stitutionen und die verantwortlichen
Politiker sich so verhallen, dass jeder an
gesprochen wird, sich zu engagieren.
Das Wichtigste dabei ist, dass er das Ge
fühl haben muss, dass er ernst genom
men wird, wenn er sich einmal einbringt.
Ein gutes Beispiel dafür, dass dies nicht
funktioniert, ist der Umgang der Politik
mit der Telekommunikation bzw. mit
den Mobilfunkantennen. Da haben sich
tatsächlich Leute eingebracht und ihre
Ängste und Sorgen artikuliert und ge
nau da habe ich den Eindruck, dass die
Politik diese Sorgen und Ängste nicht
Fortsetzung auf Seite II