!L0 Donnerstag, 13. Juli 2000
Land und Leute
Liechtensteiner Volksblatt
Wie ein unseliges Erbe überwinden?
Ein Bericht über Himmel und Hölle im westafrikanischen Nigeria,Teil 1
«Wir lagen vor Madagaskar und
hatten die Pest an Bord», heisst
die Textzeile eines Liedes. Nein
wir lagen nicht vor Madagaskar -
wir waren in Nigeria, genauer ge
sagt, im Osten, im ehemaligen
Biafra. Auch hatten wir nicht die
Pest an Bord. Gibt es sie in der
Hölle? Nigeria allerdings hat sie,
nur heisst sie dort Armut, mit al
len Nachfolgeerscheinungen wie
Krankheit, Korruption, Diebstahl
und Mord.
Gerolf Hauser
Und inmitten dieser Hölle gibt es ein
Stück Paradies, geschaffen vom Verein
Hilfswerk Ezioha Mmaku-Nigeria
Liechtenstein mit der Präsidentin Hel
ga Netzer und der finanziellen Unter
stützung aus unserer Region und vom
LED. Hinter dem oft genug unklaren
Begriff «Hilfswerk» steht, als treibende
Kraft, der Nigerianer Ndubisi Innocent
Udeafor,dem es mit seinem unermüdli
chen Einsatz seit Uber 10 Jahren gelingt,
im Osten Nigerias inmitten eines ufer
losen Chaos Kindern eine Zukunft zu
schenken.
Die Sonne fehlt
Wer anklagend mit dem Zeigefinger
auf Nigeria weist, vergisst, dass bei die
ser Geste drei Finger auf den Kläger
zurück zeigen. Nigeria leidet in aller
Härte unter jahrhundertelangem Mord
und Diebstahl, begangen von uns. Da
kamen die frommen Missionare, stah
len den Nigerianern ihre Kultur und
Religion und damit ihre Identität, «be
glückten» sie mit dem Christentum; da
kamen die portugiesischen Kaufleute,
beuteten das Land aus und betrieben
einen gigantischen Sklavenhandel;
dann die Kolonialisten, in diesem Fall
die Engländer, d.h. Ausbeutung und
Unterdrückung im grossen Stil. Ünd
schliesslich, 1960, das so gnädige «Ent
lassen in die Freiheit», wie man das
nennt, mit anschliessend fast 40 Jahre
dauernden Kämpfen (mit sieben
Staatsstreichen, zwei Umsturzversu
chen und neun Militärherrschern), den
machthungrigen Politchefs, für die
Menschenrechte ein Fremdwort ist, und
den geldhungrigen Wirtschaftsdiktato
ren von «Shell», «Agip» und «Elf», die
das Erdölvorkommen ohne Rücksicht
auf Menschen und Umwelt ausbeuten,
Hand in Hand mit den jeweiligen «Füh
rern», verbrannte Erde und verpestete
Luft hinterlassend, in Lagos herrscht
oft genug ein permanenter Dämmerzu
stand, die Sonne schafft es nicht, den
Smog zu durchdringen. Auch deshalb,
weil es an der einfachsten Infrastruktur
fehlt. Dass der Strom permanent aus
fällt, dass das Telefon selten funktio
niert, dass man tunlichst vor dem Du
schen einen Eimer mit Wasser füllt, da
Wasserausfall mehrmals täglich «nor
mal» ist - an all das gewöhnt man sich.
Es gibt aber auch keine Müllabfuhr. So
ist Lagos eine einzige riesige Müllkippe.
In den Müllbergen am Strassenrand su
chen die Ärmsten der Armen nach Ver
wertbarem - und dann hilft ein Streich
holz, den Rest zu vernichten: Lagos, die
Tag und Nacht brennende Stadt. Dass
die Menschen bei all dieser Not, und da
zu zählt die galoppierende Inflation,
ihre Freundlichkeit, ihr Lachen, ihre
Gastfreundschaft nicht verloren haben,
erscheint wie ein Wunder.
Wo anfangen?
An den ersten freien Parlaments
wahlen Anfang 1999 beteiligten sich,
wen wundert es, nur 10 bis 20 Prozent
der rund 40 Millionen Wahlberechtig
ten (Nigeria ist mit ca. 120 Millionen
Einwohnern das bevölkerungsreichste
Land des afrikanischen Kontinents mit
je zur Hälfte Christen und Moslems
und Hunderten verschiedener Volks
gruppen). Wer kann schon nach den ge
machten Erfahrungen glauben, dass
die zukünftige Regierung den gewähl
ten Volksvertretern viel Mitbestim
mungsrecht einräumen wird. Mit der
Vereidigung eines demokratisch ge-
Das Missionszentrum Ezioha Mmaku-Nigeria im SildÖsten Nigerias wird von Liechtenstein unterstützt.
wählten Präsidenten, dem früheren Mi
litärherrscher und jetzt 63-jährigen
Olusegun Obasanjo, ging letztes Jahr
die Zeit der Militärdiktaturen zu Ende
peline, die durch das Dorf Apawor
führt, Hunderte Von Menschen angezo
gen», lauteten die Meldungen. «Mit
Flaschen, Kanistern und Baby-Bade
men geradezu in Benzin, als am Sonn
abend ein Funke das Inferno auslöste.
In Sekunden riss das Höllenfeuer die
Menschen in den Tod.» Die Rettungs-
(Bilder: gh)
denen Hausende von Litern Kraftstoff
oder Erdöl ausflössen, habe es auch in
der Vergangenheit immer wiedergege
ben. Und inmitten dieser Hölle, inmit-
In Nigeria fristen Millionen von Kindern ein Leben ohne Zukunft. Das Hilfswerk Ezioha Mmaku-Nigeria Liechtenstein möchte die ärgste Not lindem.
4
- für wie lange? Aus Gesprächen mit
österreichischen Handelsattaches in
Lagos war eine Befürchtung deutlich
zu hören: «Alle sind voll Hoffnung,
dass sich die Lebensumstände bessern;
jetzt ist der Terror der Polizei und des
Militärs gegen die eigene Bevölkerung
zu Ende. Diese Hoffnungsstimmung
aber wird bald erschöpft sein, denn was
30 Jahre lang zerstört wurde, kann nicht
in einem Jahr aufgebaut werden. Der
nächste Putsch ist programmiert.» Man
kann nur hoffen, dass die optimisti
schen Aussagen Obasanjos eintreffen
werden, dass das an Rohöl und anderen
Rohstoffen reiche Land die schwere
Hinterlassenschaft der Diktatur über
winden kann, dass die vorrangige Auf
gabe, die Überwindung schwerer sozia
ler Unruhen im Ölfördergebiet im Ni
ger-Delta, gelingt; dass im Rahmen ei
nes Aktionsplans der während der Mi
litärherrschaft verarmten Bevölkerung
der Erdölregion geholfen wird, und
dass konsequent gegen die ausufernde
Korruption vorgegangen wird, die sich
unter den verschiedenen Militärregi
mes eingenistet hat.
Brennende Hölle
Aber wie ist das zu erreichen? «In
der Hölle kann es nicht schlimmer
sein», lauteten Zeitungsmeldungen z.B.
Ende 1998, als bei der Explosion einer
Benzin-Pipeline über 600 Menschen
verbrannten - nicht die Regierenden,
auch nicht die «Shell-Experten», son
dern das ausgebeutete Volk. «Seit Ta
gen hatte ein Leck in derTYeibstoff-Pi-
i
wannen hatten sie versucht, das auslau
fende Benzin aufzufangen, um es spä
ter am Strassenrand verkaufen zu kön
nen.» Not macht eben erfinderisch -
führt aber zum Chaos, wenn die Ver
antwortlichen nur ans schnelle Geld
denken. «Vielö' Menschen, darunter
sehr viele Kinder und Frauen, schwam
arbeiten verliefen nach Augenzeugen
berichten sehr schleppend. Es habe
Stunden gedauert, bis überhaupt ein
Krankenwagen aus der nahe gelegenen
Erdölstadt Warri eingetroffen sei.
Nicht umsonst wiesen nigerianische
Reporter auf die notorisch schlampige
Arbeitsweise der Firma hin. Lecks, aus
ten des nun schon licht gewordenen
Regenwaldes, der fast kein tierisches
Leben mehr aufweist, da alles, was sich
bewegt, gejagt und gegessen wird - in
mitten dieser Hölle liegt «Mmaku»,600
Kilometer von Lagos entfernt. Der 2.
und 3. Teil berichten vom Paradies in
mitten des Chaos Nigeria.
Pfarrer Innocent Udeafor und Helga Netzer, Präsidentin des Vereins Hilfswerk Ezioha Mmaku-Nigeria Liechtenstein.