Liechtensteiner Volksblatt
Ausland
Donnerstag, 8. Juni 2000 3t
Nachrichten
Die andere Atomgefahr
BERLIN: In deutschen Atomanlagen hat es
1999 nach Angaben des Umweltministeriums
139 meldepflichtige Ereignisse gegeben. In kei
nem der Fälle seien Beschäftigte oder Anwoh
ner durch Strahlenbelastung gefährdet gewe
sen, teilte das Ministerium am Mittwoch in Ber
lin mit. Auch seien keine systematische
Schwachstellen festgestellt worden. 121 der
Vorfälle seien in Atomkraftwerken, 18 in For
schungsreaktoren gemeldet worden. Der gra
vierendste Vorfall habe sich im März 1999 im
Atomkraftwerk Unterweser ereignet. Hier sei
bei Wartungsarbeiten ein Leck an einem Rohr
des Kaltwassersystems entstanden. Radioakti
vität sei dabei nicht freigesetzt worden. Das Mi
nisterium teilte weiter mit, ein Vorfall aus dem
seit 1990 stillgelegten Atomkraftwerk Rheins
berg sei in der achtstufigen Internationalen Be
wertungskategorie als Eilmeldung eingestuft
worden. Die übrigen Vorfälle in Atomanlagen
seien im Jahr 1999 in der niedrigsten Meldeka
tegorie verzeichnet worden.
Gegen sexuelle
Belästigung
BRÜSSEL: Sexuelle Belästigung am Arbeits
platz soll künftig im gesamten EU-Raum
bekämpft werden. Bislang sei ein Vorgehen ge
gen diese Form der Diskriminierung.nicht in al
len EU- Staaten rechtlich abgedeckt, sagte EU-
Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou. Sie
stellte am Mittwoch in Brüssel den Richtlinien-
Entwurf vor. Das Problem sei weitverbreitet: Im
EU-Durchschnitt seien jede dritte Frau und je
der zehnte Mann schon einmal am Arbeitsplatz
sexuell belästigt worden, führte Diamanto
poulou aus. In Spanien, Griechenland und Itali
en seien es sogar 65 Prozent der Frauen. Der
Richtlinie zufolge soll künftig der Arbeitgeber
verpflichtet werden, für «belästigungsfreie Ar
beitsplätze» zu sorgen. Anderenfalls kann er zur
Rechenschaft gezogen ^werden. Nach Angaben
von Diamantopoulou sollen die Vorschriften vor
allem vorbeugend wirken. Nur in zwei der 15
EU-Staaten - Belgien und Frankreich - gebe es
ausreichende Gesetze zum Schutz gegen Beläs
tigungen.
Albright in Kairo
KAIRO: US-Aussenministerin Madleine Al
bright hat am Mittwoch Gespräche mit dem
ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak über
den Friedensprozess im Nahen Osten aufge
nommen. Im Anschluss war ein Treffen mit Syri
ens Aussenminister Faruk el Schara geplant. Al
bright erklärte, sie erwarte keinen Durchbruch,
aber die Tür stehe weit offen. Es ist das erste
Treffen zwischen Syrien und den USA auf dieser
hohen Ebene seit dem Gipfeltreffen zwischen
US- Präsident Bill Clinton und seinem syrischen
Kollegen Hafis el Assad im März in Gent Da
mals war den beiden Präsidenten kein Durch
bruch im syrisch-israelischen Friedensprozess
gelungen. Schara sagte Journalisten am Diens
tag, Syrien wolle den Frieden mit Israel, sei aber
zu Zugeständnissen bei der Landrückgabe nicht
bereit. Syrien verlangt den vollständigen Abzug
israelischer Ihippen von den Golan-Höhen; die
Israel seit dem Sechstagekrieg 1967 besetzt hält.
Vor ihrer Kairo-Reise hatte Albright den israe
lischen- Ministerpräsidenten Ehud Barak und
Palästinenser-Präsident Jassir Arafat Uberzeugt,
Delegationen zu den am Montag beginnenden
Friedensverhandlungen zwischen Israel und den
Palästinensern nach Washington zu schicken.
Gegenwind für Putin
MOSKAU: Der russische Präsident Wladimir
Putin ist am Mittwoch erstmals seit seinem of
fiziellen Amtsantritt Anfang Mai mit Gesetzes
vorhaben auf den Widerstand des Parlaments
gestossen. Das Abgeordnetenhaus, die Duma,
kritisierte eine geplante Reform der Sozialab
gaben. Nach kontroverser Debatte wurde der
Punkt auf Freitag vertagt. Die Duma-Abgeord
neten debattierten auch über die Einführung
eines Einkommensteuersatzes von 13 Prozent.
Vor allem Gewerkschafter wenden sich gegen
die geplante Zusammenführung aller Sozialab
gaben und dagegen, dass das Steuerministeri
um für die Gelder zuständig sein soll. Sie be
fürchten, dass Kürzungen bei Sozialleistungen
dadurch erleichtert würden. In der zweiten
Kammer, dem Föderationsrat, wandten sich
mehrere Gouverneure von Regionen gegen
Putins Regionalreform und sprachen von dro
hender Entmachtung. Putin will als mittlere
Instanz zwischen dem Zentralstaat und den
89 Regionen sieben neue Verwaltungsbezirke
einfügen.
Krisenherd Sri Lanka: 22Tote bei Anschlag in Colombo - auch ein Minister tot
COLOMBO: Bei einem
Selbstmordanschlag in Sri
Lanka sind am Mittwoch
mindestens 22 Menschen
getötet worden. Nach Anga
ben der Polizei befindet sich
unter den Toten auch der Mi
nister für industrielle Entwick
lung, C.V. Gunaratne.
Die Explosion ereignete sich in
Moratuwa, zwölf Kilometer südlich
der Hauptstadt Colombo. Nach An
gaben eines Arztes wurden neben
den 22 Toten mindestens 60 Men
schen verletzt. Die Polizei machte
die tamilische Organisation Befrei
ungstiger von Tamil Eelam (LTTE)
für den Anschlag verantwortlich.
Industrieminister Gooneratne
hatte einen Umzug zum «Tag der
Kriegshelden» angeführt. Der Na
tionalfeiertag war zu Ehren der Re
gierungssoldaten eingeführt wor
den, die bislang im Kampf gegen die
Befreiungstiger fielen.
Neue Massnahme: Erhöhte
Sicherheitsmassnahmen
Die Bombe explodierte wenige
Stunden nach der offiziellen Ge
denkfeier, auf der Sri Lankas Präsi
dentin Chandrika Kumaratunga be
tonte, die Regierung wolle den Kon
flikt mit den Tamilen beenden. Ku
maratunga machte die Befreiungsti
ger für das Anhalten der Kämpfe im
Norden des Landes verantwortlich.
Aus Angst vor Anschlägen hatte das
Militär seine Sicherheitsmassnah-
Die Polizei greift einen mutmasslichen Täter auf. Bei dem Anschlag wurden 22 Menschen getötet - unter anderem
der Minister ßr industrielle Entwicklung, C V. Gunaratne. (Bilder: Keystone)
men rund um Colombo erhöht. Ma
rineboote sicherten die Küste,
Strassenkontrollen verursachten
lange Staus.
Die Rebellen kämpfen für die Un
abhängigkeit der mehrheitlich von
Tamilen bewohnten Regionen im
Norden und Osten von Sri Lanka.
Der Konflikt zwischen Regierung
und Tamilen schwelt seit 28 Jahren
und eskalierte vor fünf Jahren in ei- -
nen Bürgerkrieg, in dem bereits Krisengeschütteltes Sri Lanka: Jetzt
mehr als 55 000 Menschen starben. wird die Lage noch kritischer.
Tausende werden vermisst!
Internationales Rotes Kreuz stellt «Buch der Verschwundenen» vor
GENF: Das Internationale Komitee
vom Roten Kreuz (IKRK) hat
am Mittwoch ein «Buch der Ver
schwundenen» aus dem Kosovo-
Konflikt veröffentlicht. Darin wer
den die Namen von insgesamt 3368
Personen, die meisten davon Koso
vo-Albaner, aufgelistet.
Zu den Verschwundenen gehören
aber auch Serben, Roma und und
Angehörige anderer Minderheiten
im Kosovo. Die Liste umfasst die
Zeitspanne zwischen Januar 1998
und Mitte Mai 2000. In dem 200-sei
tigen Dokument werden die Namen
der verschwundenen Personen in
alphabetischer sowie chronologi
scher Reihenfolge ihres Verschwin-
dens aufgelistet.
«Die grosse Frage ist, wieviele
der 3368 Personen noch am Leben
sind», betonte Andreas Wigger, Lei
ter der IKRK-Einsätze im Balkan.
Der Krieg ist vorbei, aber nach wie vor werden Tausende Menschen vermisst
Das IKRK listet die Namen von 3368 Vermissten auf...
Eine grosse Zahl der Verschwunde
nen sei «wahrscheinlich» tot. «Wenn
die Leute etwa in Massengräbern
verscharrt wurden, kann die Identi
fizierung sehr lange dauern», beton
te Wigger.
Israelische Volksvertretung am Ende
Israel steht jetzt endgültig vor Neuwahlen - Friedensprozess in Gefahr?
JERUSALEM: Das israelische Par
lament hat nach nur elf Monaten
seine Auflösung beschlossen. Damit
beschworen die Volksvertreter eine
schwere . Regierungskrise herauf;
die sich auch negativ auf den Frie
densprozess mit den Palästinensern
auswirken könnte.
Der oppositionelle Likud-Politiker
Ruven Rivlin nannte die Abstim
mung am Mittwoch «den Anfang
vom Ende der Regierung Barak».
Von den 109 anwesenden Knesset-
Abgeordneten stimmten nach einer
stürmischen Debatte in erster Le
sung 61 für das von der Opposition
eingebrachte Gesetz, 48 waren da
gegen. Nach israelischem Recht
wird der Entwurf jetzt zunächst in
den Ausschüssen beraten, bevor er
für drei weitere Lesungen vor die
Knesset kommt. Dieser Prozess
könnte Monate in Anspruch neh
men. Ministerpräsident Ehud Barak
ist der Auffassung, dass es trotz der
von der Knesset beschlossenen Auf
lösung des Parlaments «keine Neu
wahlen» geben wird. Im israelischen
Fernsehen sagte der Regierungs
chef am Abend, er werde schon auf
der nächsten Sitzung des Kabinetts
am Sonntag «die nötigen Entschei:
düngen treffen».
Er machte deutlich, dass er nicht
mit der bisherigen Koalition weiter
regieren werde. «Wir werden ent
weder eine Regierung haben, die
sich aus anderen Elementen zusam
mensetzt, oder aber eine aus ähnli
chen wie bisher, aber, dann unter
völlig anderen Bedingungen», kün
digte Barak an.
Noch während der Knesset-De
batte hatte Baraks Büro schon eine
Erklärung veröffentlicht, in der es
hiess: «Der Ministerpräsident ist
entschlossen, der Situation ein Ende
zu bereiten, in der Minister ihre Ka
binetts-Sessel warm halten, sich
aber wie Oppositionelle beneh
men». Bisher verfügte Baraks Ko
alition über 68 der 120 Mandate in
der. Knesset.
Die Abgeordneten von drei der
sechs Regierungsparteien stimmten
aber für die Auflösung des Parla
ments, unter ihnen die vier Minister
der ultra-orthodoxen Schas-Partei
und Innenminister Nathan Scha-
ranski von der russischen Einwan
derer* Partei.
Barak hatte zuvor angekündigt,
dass alle Minister, welche die Selbst
auflösung der Knesset unterstütz
ten, entlassen würden. Nach der von
Barak angewandten Regelung wird
die Entlassung jedoch erst in zwei
Wochen wirksam.
Während die Partei Scharansicis
und die orthodoxe «National- Reli
giöse Partei» die Politik Baraks ge-
Gestem in der Knesseth: Der Führer
derShas-Partei Eli Ishai (links) wird
begrilsst von Mitgliedern seiner Par
tei, Amnon Cohen (rechts).
genüber den Palästinensern ableh
nen, stimmte Schas für die Auflö
sung, weil Barak sich bisher weiger
te, der Partei Millionen-Beträge für
ihr bankrottes religiöses Schulsys
tem zu Uberweisen. Barak und seine
engsten Berater hatten am Mitt
wochmorgen die Möglichkeit einer
kleinen Koalition ohne die religiö
sen Parteien sondiert