Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2000)

Liechtensteiner Volksblatt 
Inland 
Donnerstag, 25. Mai 2000 9 
Blut und bittere Tränen statt a 2 + b 2 
Gewalt an Liechtensteins Schulen: Lehrer zwischen Hoffnung und Verzweiflung - keine Aussicht auf Besserung 
Man liest täglich davon - das 
Problem scheint weltweit ein 
unbequemes Ärgernis zu sein, 
weil es doch irgendwie den Zu 
stand unserer Gesellschaft wie 
derspiegelt: Gewalt und Terror an 
den Schulen. Wenn das Problem 
überall auf unserem Globus auf 
tritt, könnte es dann sein, dass 
auch die Ursachen dieselben sind? 
Manche Lehrer und Erzieher mei 
nen Ja. Gewalt an Schulen - das 
kommt auch in Liechtenstein vor. 
Das ist ein Thema, das mehr und 
mehr traurige Aktualität gewinnt. 
Die, die unterrichten, können ein 
Lied davon singen. Und die 
Schüler, die darunter leiden, eben 
falls ... 
Erich Walter de Meijer 
Adolf Marxer hat dringend Abstand ge 
braucht von der Schule. Er ist Lehrer in 
der Oberschule Eschen und hat vor al 
lem in den vergangenen fünf, sechs Jah 
ren schlimme Erfahrungen machen 
müssen. Dabei ist «Gewalt an Schulen» 
nicht unbedingt sein primäres Problem. 
Es ist der Umgang der Schüler unter 
einander und die Art und Weise, wie die 
Schüler mit ihm selbst umspringen, was 
so an seinen Nerven zehrt. Marxer ist 
ein erfahrener Mann, er unterrichtet 
schon seit über 31 Jahren. Er legt gros 
sen Wert auf einigermassen gepflegte 
Umgangsformen und gegenseitigen 
Respekt. «Ich glaube, das ist nicht zuviel 
verlangt», meint er. 
Eine aufschlussreiche Studie 
Die Liechtensteinische Jugendstudie 
vom Jahr 1999, durchgeführt vom Amt 
für Soziale Dienste, qpachfcdeutlich, wo 
von Marxer spricht: Esrwurde festge 
stellt, dass drei Viertel aller Jugendli 
chen erklären, dass die Gewalttätigkeit 
generell zunehmen würde. Vor allem 
Lehrlinge, Gymnasiasten und Mädchen 
sind dieser Meinung. Nach den Aussa 
gen von Schülern wie auch von Lehrern 
hat die Gewalt viele Formen: Verbale 
Gewalt gehört zu der am häufigsten er 
lebten Gewaltform. Viele haben auch 
schon Erfahrungen mit sexueller Ge 
walt machen müssen, Ohrfeigen gibt es 
unter den Schülern, mehr noch aber zu 
Hause. 
Mit den Nerven fertig... 
Marxer ist empfindlich gegenüber 
der verbalen Gewalt, die heute an den 
Schulen gang und gäbe sei: «Früher hat 
es doch etwas Überwindung gekostet, 
zu jemandem <Du Sau> zu sagen - heu 
te passiert das täglich vielfach. Zumin 
dest höre ich diese und ähnliche meiner 
Meinung nach üblen Schimpfworte 
sehr oft.» Auch diese Erfahrung wird in 
der Umfrage bestätigt: Über 70 Prozent 
aller befragten Schüler gaben an, je 
manden beleidigt, gekränkt, be 
schimpft, angeschrien zu haben - und 
diese Dinge spielen sich nicht nur in der 
Schule ab. 
Erpressung und Diebstahl 
Adolf Marxer erzählt weiter: «Die 
Gewalt kommt in Wellen. Mal überwie 
gen die Sachzerstörungen, mal wird 
Prügel statt harmonisches Zusammenleben: Gewalt - in welcher Form auch immer ~ gehört auch an Liechtensteins Schulen zum traurigen Alltag. Es kommt zu Sachbe 
schädigungen, zu Diebstahl, zu Erpressung und zu handfesten Schlägereien. Die Lehrerschaft muss das Problem sensibel angehen - und manch einer macht das Thema 
Gewalt sogar zum Unterrichtsstoff. Die Ursachen für das Agressionspotential sind - wie üblich - auch in der Gesellschaft zu suchen. (Bilder: bak, de Meijer) 
mehr gestohlen, mal dominiert die kör 
perliche Gewalt. Ich kenne auch Fälle 
von Erpressungen - Schüler drohten 
anderen mit Schlägen, wenn sie nicht 
bestimmte Geldbeträge herausrücken. 
Das ist schlimm.» 
-< Wie reagiert man auf solche Entwick 
lungen: »Wir können nicht viel tun. Wir 
können Gespräche führen und dabei 
versuchen, plausibel zu machen, dass ei 
ne Gesellschaft nur dann gut funktio 
niert, wenn gewisse Regeln eingehalten 
werden. Wir sind gefordert, müssen sen 
sibel reagieren.» 
Was macht die Gesellschaft? 
.Marxer ist der Meinung, dass sich die 
Gesellschaft in den letzten 20,30 Jahren 
sehr gewandelt hat: «Es ist offensicht 
lich, dass die Medien einen grossen Ein- 
fluss haben. Wir leben mehr und mehr 
auch in einer multikuiturellen Gesell 
schaft - und das schafft neue Probleme. 
Wir als Lehrer müssen da so viele 
Rücksichten nehmen. Das fängt schon 
beim Morgengebet an: Früher kein 
Problem. Heute ist es ein Problem, weil 
man auf Minderheiten Rücksicht neh 
men muss. Ich selbst wurde auch schon 
bedroht von einem Schüler - er erklär 
te mir, wenn ich ihn anfasse würde, dann 
würde er seinen Vater holen, und der 
hätte sicher ein Messer dabei. Es ist 
traurig aber wahr: Manche Minderhei 
ten haben ein sehr grosses Agressions 
potential.» 
«Ich war am Limit...» 
Marxer empfindet das Klima an den 
Schulen - speziell auch an seiner Schu 
le, der Oberschule Eschen - als ziemlich 
rauh. «Es herrscht allgemein ein rauher 
Ton. Ich für meinen Teil war am Limit. 
Es ist oft so schwer, richtig zu reagieren. 
Meine letzte Klasse war extrem schwie 
rig - alle waren untereinander sehr zer 
stritten, und es hat schon bevor der Un 
terricht angefangen hat viele Schläge 
reien gegeben, das Klin|||v&r allgemein • 
sehr vergiftet. Ich habepmn ^ildungs- 
urlaub genommen, ich hape das alles 
nicht mehrausgeRalten.Jefe im August 
geht es wieder los, ich bin aber weder 
verbittert noch habe ich Angst - irgend 
wie freue ich mich wieder auf den Un 
terricht, weil ich sicher eine angeneh 
mere Klasse bekomme.» 
Jörg Adlassnig ist ebenfalls Klassen 
lehrer an der Oberschule in Eschen. Er 
gehört einer jüngeren Generation als 
Marxer an, kennt die Problematik aber 
genauso wie sein Kollege, der gerade 
Schule Eschen: Ein Lehrer hat Urlaub genommen. In seiner Klasse herrschte ein über 
aus verbittertes Klima. Er konnte einfach nicht mehr... 
Adlassnig: «Zu viel TV und PC!» 
Urlaub hat. Er weiss von viel Gewalt, 
von Schlägereien, von Alkoholmiss 
brauch und Unruhe. «Gottseidank», 
meint er erleichtert, «haben wir hier 
nicht wirklich Urbane Verhältnisse! Ich 
kenne Schulen wie zum Beispiel in Bre- 
genz, da geht es wirklich wild zu.» 
Man überschreitet Grenzen 
Adlassnig meint, dass es Gewalt an 
Schulen immer gegeben habe, dass Kin 
der gerangelt und gerauft haben - aber 
heute sei es doch etwas ganz anderes: 
«Die Jugendlichen überschreiten die 
Grenze - und manchmal wird's sogar 
sehr blutig. Wenn einer am Boden liegt 
und nicht mehr kann, dann schlagen 
manche Schüler trotzdem weiter auf 
ihn ein. Das ist der Knackpunkt: Die 
Verhältnismässigkeit geht verloren.» 
Adlassnig sucht die Erklärung für 
dieses Ausrasten in erster Linie bei den 
neuen Medien: Fernsehen und Compu 
ter übernehmen Teile der Erziehung, 
die Eltern kümmert es wenig, täglich 
sechs bis acht Stunden vor irgendeiner 
Mattscheibe sei keine Seltenheit. «Und 
ein zweites kommt hinzu: Unsere Ge 
sellschaft geht mit vielen Dingen lieblos 
um - weil man alles ersetzen oder neu 
kaufen kann, oder man ist versichert. 
Früher haben Kinder über ihre Fahrrä 
der noch mit Argusaugen gewacht, heu 
te hat das <Sorge-Tragen> nicht mehr ei 
nen so hohen Stellenwert.» 
Er meint, die Jugendlichen der 
Eschner Oberschule hätten auch nicht 
so gute Chancen, im Beruf unterzu 
kommen wie Realschüler beispielswei 
se: «Ein Oberschulenzeugnis ist einfach 
weniger wert. Das ist schade, weil es er 
stens falsch ist und zweitens frustriert.» 
Das Gewaltpotential 
Viele Dinge spielen eine Rolle, erge 
ben ein explosives Ganzes: «Hier in 
Eschen haben wir eine sehr grosse 
Schule mit über 400 Schülern - auch 
diese Grössenordnung wirkt sich auf 
das Gewaltpotential aus: Wo viele Men 
schen beisammen sind, da gibt es auch 
so etwas, was ich irrationale Fremden 
feindlichkeit nenne. Ich kann Ressenti 
ments gegenüber Kosovo-Albanern 
nicht nachvollziehen, auch wenn ich 
mich noch so sehr anstrenge - trotzdem 
gibt es sie unter den Schülern, obwohl 
der Prozentsatz an wirklich gewaltbe 
reiten Schülern meiner Meinung nach 
eher gering ist.» 
Gewalt als Unterrichtsthema 
Wie geht er damit um? «Wir müssen 
die Eltern einbinden, mit ihnen reden, 
sie informieren. Ich behandle die Ge- 
waltbereitschaft in verschiedenen Un 
terrichtsphasen, mache sie zum Thema 
des Unterrichts. Wir machen Rollen 
spiele, führen Gespräche und Diskus 
sionen. In der Regel kann man - das ist 
meine Erfahrung - mit den Betroffenen 
gut reden, oder sie zeigen zumindest 
Bereitschaft, sich zu ändern. Wir Er 
wachsenen müssen eine adäquate Kon 
kurrenz zum Fernsehen und zu brutalen 
Marxer: «Ich konnte nicht mehr.» 
Computerspielen sein. Wir müssen den 
Schülern klar machen, dass es profita 
bel ist, sich zu benehmen - zum Beispiel 
in der Arbeitswelt. Frustrationen müs 
sen abgebaut werden.» 
Adlassnig scheut es in diesem Zu 
sammenhang nicht, die Erwachsenen 
welt zu kritisieren: «Nehmen wir zum 
Beispiel das Thema Alkohol: Solange 
Eltern stolz darauf sind, wenn der Juni 
or seinen ersten Most trinkt und sein er 
stes Bier kippt, so lange bleibt es 
schwierig, ihnen Werte zu vermitteln. 
Jugendliche Alkoholleichen bei diver 
sen Dorffesten wie beispielsweise am 
vergangenen Wochenende in Schaan 
machen das Ausmass dieses Problems 
überdeutlich.» 
Rauhe Sitten: Rangeln in Massen hat es immer schon gegeben. Aber heute ist das 
ganz anders - manchmal wird draufgeschlagen, bis einer keinen Mucks mehr macht.
	        

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