Liechtensteiner Volksblatt
Inland
Mittwoch, 5. April 2000 3
Verfassung: Diskrepanzen in 6 Punkten
Gespräche zwischen Verfassungskommission und Fürstenhaus gescheitert - In sechs Punkten war keine Annäherung möglich
Montagabend auf Scliloss Vaduz: In sechs wesentlichen Punkten konnten sich der Landesfürst, die Verfassungskommission und
Regierung nicht einigen. (Bild: bak)
Seit Montagabend steht beinahe
unverrückbar fest, dass das Volk in
der Verfassungsfrage seine Ver
antwortung als Souverän über
nehmen muss. S. D. der Landes
fürst stellte im Anschluss an die
Verhandlung auf Schloss Vaduz
fest, dass es nun am Volk liege, die
offene Verfassungsfrage an der
Urne zu klären. Sowohl die Ver
fassungskommission, als auch
S. D. Fürst Hans-Adam äusserten
sich übereinstimmend, dass in
sechs wesentlichen Punkten keine
Einigung erzielt werden konnte.
Peter Kindle
Die Verhandlungen über eine neue Ver
fassung zwischen Fürstenhaus und Ver
fassungskommission des Landtages vom
vergangenen Montag waren von densel
ben Inhalten geprägt, wie bereits schon
die Verhandlungsrunden vom Septem
ber 1999. In sechs wesentlichen Punkten
herrschten offensichtlich unüberwind-
bare Diskrepanzen,die auch am Montag
nicht beseitigt werden konnten.
Selbstbestimmungsrecht
Ein wichtiger Faktor, bei welchem
kein Kompromiss gefunden werden
konnte, stellt das sogenannte Selbstbe
stimmungsrecht dar. welches im Verfas
sungsvorschlag des Landesfürsten vor
gesehen ist. Der Landesfürst begründet
die Hineinnahme des Sclbstbestim-
mungsrechtes in die Verfassung damit,
dass den kleinsten politischen Einhei
ten des Landes das Recht zukommen
müsse, sich aus dem Landesverband zu
separieren. Die Zugehörigkeit einer
Gemeinde zum Staat Liechtenstein soll
auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit
basieren.
Richtervorschlagsrecht
Ein Land brauche unabhängige Ge
richte, welche nicht aufgrund parteipo
litischer Motivation besetzt werden sol
len, betonte der Landesfürst bei den
Gesprächsrunden zwischen Fürsten
haus und Bevölkerung immer wieder.
So sieht der Verfassungsvorschlag des
Fürstenhauses vor, dass der Fürst als
unabhängige Person das Vorschlag
recht für Richter in seine Kompetenzen
übernehmen soll.
Monarchieabschaffungsinitiative
Unterschiedliche Meinungen zwi
schen Fürstenhaus und Verfassungs
kommission des Landtages stellt auch
die sogenannte «Monarchieabschaf-
fungsinitiative» dar. Die heutige, gel
tende Verfassung widerspreche in die
sem Punkt den Prinzipien eines moder
nen Rechtstaates. Der Fürst möchte in
Liechtenstein so lange als Staatsober
haupt fungieren, wie dies auch die
Mehrheit des Volkes wünscht. «Des
halb ist im neuen Artikel 112 ein Ver
fahren vorgesehen, das über die Volks
abstimmung die Abschaffung der Mon
archie ermöglicht, ohne dass der Fürst
sein Veto dagegen einlegen kann», kann
im schriftlichen verfassungsvorschlag
des Fürstenhauses nachgelesen werden.
Weitere strittige Punkte
Mit dem Notverordnungsrecht, dem
Vorgang einer eventuellen Absetzung
der Regierung und der damit verbun
denen Auflösung des Landtages sind
weitere Punkte im Verfassungsvor
schlag des Landesfürsten enthalten,
welche die Verfassungskommission in
der vorliegenden Form nicht akzeptier
te.
Heikle Entscheidung für Volk
Aller Voraussicht nach wird dem
Stimmvolk die Aufgabe zukommen,
über den Verfassungsvorschlag des
Landesfürsten abzustimmen. Die mo
mentane Entwicklung zeigt deutlich,
dass es nicht zu einer «Kampfabstim
mung» zwischen den beiden Vorschlä
gen kommen wird. So werden die poli
tischen Parteien, Regierung und Für
stenhaus versuchen müssen, in der noch
verbleibenden Zeit möglichst viele und
inhaltlich klare Informationen in die
Bevölkerung zu bringen, damit diese
dann eine weise Lösung für Liechten
stein finden kann, die für die Zukunft
des Landes wegweisend ist.
«Verantwortung gegen Willkür und Vetternwirtschaft»
Am Parteitag vom 20. März stellte die
Landtagsfraktion der FBPL eine Bro
schüre vor, in welchcr sich die Land-
tagsubgeordneten mit Aktualitäten
der Landespolitik auseinandersetzen.
Nachfolgend veröffentlichen wir die
Stellungnahme von Renate Wohlwend
zum Thema «Rechtsstaat».
In meiner Arbeit als Mitglied der Parla
mentarischen Versammlung des Euro
parates bin ich theoretisch, aber umso-
mehr durch Teilnahme an entsprechen
den Missionen in die neuen Mitglied
staaten, regelmässig mit der Frage nach
dem Entwicklungsstand der Grundsät
ze des Europarates befasst: pluralisti
sche Demokratie, Achtung der Men
schenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Ende Januar habe ich im Monitoring-
ausschuss das Mandat als Co-Berichter-
statter für die Ukraine übernommen.
Die Feststellung, dass die Herrschaft
des Rechts nicht funktioniert, ist eine
neben vielen, welche den Europarat zu
immer neuen Bemühen herausfordert,
in den Plenarversammlungen und
durch Kooperationsprogramme für die
Transformation der zentral- und osteu
ropäischen Mitgliedstaaten die gemein
same Wertbasis zu erläutern, zu vermit
teln und zu sichern. Wir können uns
KHKLAME
Broschüre der Landtagsfraktion - 12.Teil: Renate Wohlwend zum Thema Rechtsstaat
glücklich schätzen, dass uns die Pro
blemstellungen der neuen Mitglieds
länder (des früheren Ostblocks) nur in
direkt berühren.
Aber ich habe mir ganz allgemein
überlegt: Unser Land ist seit November
1978 Mitglied des Europarates, wie
steht es eigentlich bei uns mit den «eu
ropäischen Grundwerten»? Funktio
nieren Gesetzgebung, vollziehende Ge
walt und Rechtssprechung zweifellos
so, dass Rechtsstaatlichkeit eine Selb-
verständlichkeit für unsere Bürger und
Mitbewohner ist? Während der Willkür
einer Privatperson im privaten Han
deln durch die guten Sitten Grenzen ge
setzt sind, sollte dem Staat von vorn
herein durch zweifellos klare gesetzli
che Rahmen eine Willkür verunmög-
licht sein.
Das ist nur dann möglich, wenn nach
dem Stufenbau der Rechtsordnung die
Gesetze verfassungskonform sind; wenn
überall dort, wo es zusätzlicher Aus- und
Durchführungsbestimmungen bedarf,
gleichzeitig mit Inkrafttreten eines Ge
setzes auch Verordnungen erlassen wer
den. Weiter benötigte amts- bzw. ver
waltungsinterne Richtlinien und Wei-
Renate Wohlwend: «Die Aufmerksamkeit und das Verantwortungsbewusstsein für sungen sind allen in der speziellen Sach-
die Herrschaft des Rechts sind in Erinnerung zu rufen, wenn es ihrer mangelt, damit bearbeitung betroffenen Verwaltungs-
es nicht zu Willkür und Vetternwirtschaft kommt. Organen und Abteilungsmitarbeitern
zur Kenntnis zu bringen und von diesen
zu beachten. Das mag für den einen
oder anderen unter uns sehr bürokra
tisch klingen, ist jedoch praktisch die
Voraussetzung dafür, dass wir uns sicher
in einer rechtlich fundierten Gleichbe
handlung fühlen dürfen.
Ein Organisationsstatut beschliessen
zu wollen, bevor die neu zu organisie
rende Struktur bekannt ist, ist unter
dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit ge
nauso wenig verantwortbar, wie die
Ausschreibung einer Amtsstelle, die es
mangels gesetzlicher Grundlage noch
gar nicht gibt.
Die Aufmerksamkeit und das Verant
wortungsbewusstsein für die Herr
schaft des Rechts sind in Erinnerung zu
rufen, wenn es ihrer mangelt, damit es
nicht zu Willkür und Vetternwirtschaft
kommt. Ich sehe es als eine wichtige
Aufgabe des einzelnen Abgeordneten,
auch oder speziell bei solchen
Grundsätzen wachsam zu sein.