Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2000)

26 Donnerstag, 16. März 2000 
Wir Seniorinnen und Senioren 
Liechtensteiner Volksblatt 
Im Gewöhnliche# 
das Aussergewöhriliche 
-sehen 
Kommentar 
Wirklichkeit oder 
Illusion ? 
Es liegt in der Natur des Menschen, dass er sich 
hin und wieder seinen Erinnerungen hingibt Je 
älter man ist, desto stärker wird das Bedürfnis, 
sich mit der eigenen Vergangenheit zu befassen. 
Im Rückblick erscheint manches verschwom 
men. anderes wiederum steht klar wie eine Fo 
tografie vor den Augen, gerade so, als sei es erst 
gestern geschehen. Im Alter verändert sich der 
Blickwinkel: Schlimmes war einst gar nicht so 
schlimm. Erfreuliches war viel erfreulicher. 
Manches, was früher für selbstverständlich er 
achtet wurde, erscheint im Nachhinein als etwas 
ganz Aussergewöhnliches. Des Menschen Ge 
dächtnis schafft die Möglichkeit, die Vergan 
genheit zu rekonstruieren. Das Bild, das ent 
steht. hängt aber weitgehend von der momenta 
nen seelischen Verfassung ab. Negative wie 
auch auch positive Details verlieren an Gewich 
tigkeit. 
Lebenserinnerungen sind ein ganz persönli 
cher Besitz. Davon zu erzählen, ist oft ein Be 
dürfnis. davon zu hören, oft eine Bereicherung. 
Kann man sich aber wirklich sicher sein, dass die 
Erinnerungen auch dem entsprechen, was 
tatsächlich stattgefunden hat, oder spielt einem 
das Gedächtnis einen Streich und man verliert 
sich - zumindest teilweise - in Illusionen? 
Beatrix Hengevoss 
Die alte Gaststube 
Ein altes schönes Gasthaus hat Geschichte in 
sich. Früher gingen die Männer nach dem Sonn 
tags-Gottesdienst meistens noch in die Wirt 
schaft. Die Frauen liefen schnell nach Hause, 
wenn sie nicht schon in der Frühmesse waren. 
Sie mussten ja möglichst bald das Mittagessen 
zubereiten. 
Im «Engel» da ist man gleich daheim. Die 
Wirtin kennt jedes Gesicht, das zur Türe herein 
kommt. Die Ereignisse des Tages werden be 
sprochen und ab und zu, wenn es die Zeit er 
laubt, klopft auch die Wirtin einen Jass mit den 
Gästen. 
Ihr trockener Humor und Witz sorgen für 
gute Stimmung. Die Küche wird von ihrer 
Schwester vortrefflich geführt. Da gibt es 
Fleischvögel mit Reis, Flädlisuppe usw. wie zu 
Grossmutters Zeiten. 
Am Stammtisch sitzen mehr oder weniger 
Männer. Der älteste Stammgast ist 95 Jahre alt, 
man würde es ihm nicht geben. Die Wirtin oder 
auch die junge Serviertochter wissen gleich Be 
scheid, wenn er kommt. Er bekommt ein Glas 
Bier und seine lange Zigarre. Die Zigarre wird 
ihm aber von der Wirtin angezündet. 
Das ist eine kleine Nebensächlichkeit und ich 
fand es doch schön, diese Aufmerksamkeit dem 
Stammgast gegenüber. 
Ja im «Engel» da fühlt man sich wohl. Ist es 
wohl der Engel, der über dem Haus schwebt? 
Dieser Gasthof mit seiner Frau Wirtin und 
dem Personal ist ein Stück lebendiger Dorfkul 
tur. 
Man trifft sich, man kennt sich, man lacht und 
scherzt. 
Sicher könnte man auch zum «Emmile» ge 
hen, wenn man traurig wäre. Melitta Marxer 

Impressum 
Spt Senioren-Presse-Team: Dr. Biedermann Paul, 
Hengevoss Beatrix, Marxer Melitta, Matt Theres, 
Schädler Roswitha, Vollmer Helmut 
Kontaktadresse: KBA Kontakt- und Beratungs 
stelle, Beckagässli 6 ,9490 Vaduz,Tel. 237 65 65 
Aus Gewöhnlichem etwas 
Besonderes machen 
Künstler leben davon oder es 
wird jemand zum Künstler, 
weil er aus Gewöhnlichem et 
was Besonderes macht. 
Roswitha Schädler 
Kennst du die Zwillinge «Gold- und 
Pechmarie»? Goldmarie,die Lustige 
re, die, die in den «Wolken» lebt und 
auch Marie heisst. Die dunkelhaarige 
Peppi, die Nüchterne, Genaue, Reali 
stin,die,die Marie wieder auf den Bo 
den brachte, wenn diese zu sehr ab 
hob. Das spielte sich bei einem ge 
wöhnlichen Spaziergang am Rhein 
etwa so ab. Marie: «Schau Peppi, die 
ser wunderschöne Stein! Was der für 
Linien hat, die Farben, wie warm und 
glatt er sich anfühlt!» 
Peppi: «Mag schon sein, aber bitte, 
schleppe nicht wieder einen Sack voll 
mit nach Hause. Wir haben nun schon 
die ganze Terrasse voll von diesen 
Wundersteinen. Ich habe dich ge 
warnt: ab nächstem Steinesack wird 
nur mehr gejoggt am Rheindamm.» 
Es stellte sich im Laufe der Jahre 
heraus, dass Marie sich ganz der 
Künstlerlaufbahn verschrieb. An 
zeichen dazu zeigten sich schon in 
der Grundschule. Beim «Schön 
schreiben» passierte es ihr immer 
wieder, dass sie Tintenkleckse aufs 
Papier brachte. Dies kümmerte sie 
gar nicht, denn daraus wurden 
Bäumchen. Männchen, Sterne und 
was immer sie darin entdecken 
konnte. Die Lehrer waren weniger 
begeistert von den aufpolierten 
Klecksen. Peppi hingegen konnte 
immer eine saubere Arbeit abgeben 
und erhielt dadurch die Anerken 
nung der Lehrer. Auch Vater war er 
freut über die daraus resultierenden 
guten Noten während ihm Maries 
nonchalante Art Sorgen bereitete. 
Peppi wurde Anlageberaterin, 
wusste mit Geld umzugehen, war 
erfolgreich in ihrem Beruf und ge 
schätzt von Chef und Kunden. Sie 
war es, die eigentlich, geldmässig, 
schlussendlich die Goldmarie von 
den Zweien war. Moralisch gesehen 
war Peppi froh, Marie zur Seite zu 
haben. Sie konnte sie aufmuntern, 
sah alles so heiter und rosig. 
So ein Aufmunterungsgespräch 
an einem Samstagmorgen könnte 
sich etwa so abspielen: 
Peppi: «Schau das Wetter an, trüb, 
regnerisch, einfach scheusslich und 
ich habe mich so auf das Wochenen 
de gefreut, um wieder Sonne, frische 
Luft zu tanken, den Alltagsstress zu 
vergessen. Und jetzt ist Trübsalbla 
sen angesagt: keine Aussicht auf 
Wetterbesserung.» 
Marie: «Na und ...?, Was ist mit 
dem Video, seit Monaten liegt es be 
reit gesehen zu werden? Das Buch 
<Die Päpstin> kannst du lesen es ist 
so spannend, dass du die übrige Welt 
vergisst. Vorher könntest du deine 
Kleidereinkäufe machen, sonst 
stöhnst du wieder vermehrt jeden 
Morgen vor deinem Kleiderschrank, 
was du wohl anzuziehen hättest! 
Und wenn dies alles nichts sein soll 
te, freue dich, dass es endlich wieder 
mal einen «Kuscheltag» gibt, ausru 
hen, nichtstun, meditieren, Musik 
hören, dich einlullen lassen, Well 
ness für Körper und Seele!» 
Im Gewöhnlichen das 
Aussergewöhnliche sehen 
Wenn wir über Aussergewöhnliches 
sprechen, denken wir meistens an 
sehr grosse Ereignisse, an ausseror 
dentliche und geniale Menschen, an 
Katastrophen und Kriege oder an 
sogenannte Wunder. Eines der gros 
sen Ereignisse der letzten Zeit, das 
weltweit von Millionen von Men 
schen mit Begeisterung und grossar 
tigen Feuerwerken gefeiert wurde, 
war die Jahrtausendwende. Der 
Wunsch, dieses Ereignis so bald als 
möglich zu feiern, war so gross, dass 
man das Jahrtausend ein Jahr zu früh 
enden Hess. 
H. Vollmer 
Wir, die wir mehrheitlich nicht gera 
de in Urlaub sind oder uns aktiv auf 
das fasnächtliche Treiben vorberei 
ten, stehen wieder im Alltag. Das 
fordernde Berufsleben, die tägli 
chen Sorgen und Mühen, aber auch 
die Freuden und schönen Erlebnis 
se des Alltags, stehen wieder im Vor 
dergrund. Ruhiger, weniger for 
dernd und nicht selten weniger ab 
wechslungsreich, verläuft das Leben 
der Seniorinnen und Senioren. Wir 
alle haben zwar Ziele und Wünsche 
und streben deren Erreichen und 
Erfüllung an. Naturgegeben werden 
diese selbstgesetzten Hürden im 
Laufe des Lebens niedriger und fla 
cher und damit auch die Zielerrei 
chungshöhepunkte seltener. Wir 
laufen dann Gefahr, uns mit dem 
«Gleichlauf des täglichen Gesche 
hens», mit der Sollerfüllung auf 
niedrigem Niveau, zufrieden zu ge 
ben. Das Gewöhnliche droht, das 
Ungewöhnliche zuzudecken. 
In der Angespanntheit des Tages, 
im Hasten der Zeit, in dem Bestre 
ben, vieles ein bisschen tun zu wol 
len, verlieren wir leicht die Fähig 
keit, die wir als Kinder in hohem 
Masse hatten: sich voll und ganz auf 
etwas zu konzentrieren. Auf etwas 
Kleines aber Schönes. Auf einen 
glitzernden Stein oder einen farben 
prächtigen Schmetterling. Aber 
Neues, Schönes und Beglückendes 
gibt es auch in unserem Alltag und 
auch für Menschen jeden Alters. 
Wie können wir aber im Alltag 
«im Gewöhnlichen das Ausserge 
wöhnliche sehen»? Die wesentli 
chen Voraussetzungen dafür sind 
wohl das Wach- und Offensein und 
die immerwährende Neugierde. 
Das positive Interesse an den Men 
schen, an ihrem Denken und Han 
deln in der Vergangenheit und heu 
te. Etwas gestalten und mitgestalten 
statt zusehen und sich beklagen. 
Studieren und kennenlernenwollen 
was wir von der Schöpfung wissen 
und begreifen können und nach 
denken über das für uns Menschen 
Unbegreifliche. 
Neue Vorsätze, Beobachtungen, 
Gelesenes, Gehörtes, Gefühltes und 
nicht zuletzt Gedachtes, können im 
mer wieder ungewöhnlich sein, un 
gewöhnlich positiv oder ausseror 
dentlich negativ. Auch und gerade 
mit dem Negativen fertig zu werden 
oder etwas dagegen zu unterneh 
men, ist eine ungewöhnliche Aufga 
be. Sich so zu verhalten bedeutet, 
sich nicht an den ereignislos verlau 
fenden Alltag zu «gewöhnen», 
heisst, lernbegierig zu bleiben und 
seinem Leben, auch im hohen Alter, 
Spannung zu erhalten. Etwas Aus 
sergewöhnliches zu empfinden, et 
was Neues zu erfahren oder gründ 
lich zu durchdenken, eine neue 
Freundschaft zu knüpfen bereichert 
das Leben. Solche Erlebnisse aus 
dem Alltag heraus zu heben, sie be- 
wusst zu machen und zu verinnerli 
chen, verlangsamt den Fluss der 
Zeit, lässt uns die Zeit mit «Erleb 
tem und Erfühltem» erfüllen und 
verhindert, dass die Zeit an uns als 
Unbeteiligte vorbeizieht. 
Gerade für ältere Menschen be 
deutet eine solche, auf die Gegen 
wart fokussierte Lebenshaltung, 
dass sie nicht Gefahr laufen, die Be 
deutung der Vergangenheit zu über 
höhen und vorwiegend rückwärts 
zu blicken. Ihr Interesse, Neues zu 
erfahren und zu lernen, lässt sie auf 
subjektiv aussergewöhnlich Emp 
fundenes stossen und zum neuen 
Erlebnis werden. Neue Erlebnisse 
ereignen sich in der Gegenwart und 
vermitteln das Gefühl, in und mit 
der Zeit zu leben. Das philoso 
phisch und wissenschaftlich uner 
klärbare Phänomen Zeit wird nur, 
wenn wir aktiv handeln, denken 
oder empfinden, zu einem von uns 
als genutzte Wegstrecke empfunde 
ner Teil unseres Lebens. 
Geredet wird viel - 
zugehört? 
l /W,* 

Wer redet, benötigt Zuhörer: Sei 
dies am Stammtisch, am Telefon, 
beim Nachbarszaun oder am Stras- 
senrand, wie auch bei allen, die auf 
einem Podium, auf einer Kanzel 
sprechen. Zuhören kann oft recht 
mühsam, ja anstrengend sein. Wer 
kennt nicht Leute, die gerne und 
viel reden, dabei wenig zu sagen ha 
ben? 
Theres Matt 
Ich habe oft mit älteren Menschen 
zu tun, höre manchmal: «Vo iniar 
git's nünt Bsunders z'verzella». Darf 
ich dann doch zu einem Interview 
kommen, vernehme ich immer wie 
der Beeindruckendcs,gehe nicht sel 
ten bewegt und nachdenklich nach 
Hause. 
Die Armut hier zu Lande, die Le 
bensumstände in den Dreissigerjah 
ren verlangten hohen Arbeitseinsatz 
für das Allernotwendigste. Alte Leu 
te sagen machmal rückblickend: 
«S'ninnt mi selb wunder, wie n'i das 
usghalta ha». Beim Kirchgang, am 
Sonntagnachmittag beim Besuch 
«bi dr Nana und am Nene» oder bei 
einem Spaziergang blieb etwas «Zit 
zum Verzella». 
In der Dorfgemeinschaft wusste 
man von Nachbarn und Bekannten 
«wia's lauft und goht». Man interes 
sierte sich füreinander, für das Ge 
wöhnliche und das Aussergewöhnli 
che. 
Der heutige Alltag mit all den ge 
botenen Möglichkeiten trägt bei 
vielen Menschen den Stempel der 
Einsamkeit, oft, aber nicht nur bei 
den Älteren. Ein Gespräch ist mir 
unvergesslich geblieben. Eine bald 
Achtzigjährige sagte: «I ha's recht 
gha, solang min Ma noch glebt het» 
- und fuhr fort: «Nochher han i mi 
lang einsam gfühlt, d'Kind und 
d'Enkel sin selta ko». Stockend er 
zählt die Jubilarin weiter, wie ihr un 
ter den von ihren Töchtern und Söh 
nen zurückgelassenen Büchern eine 
Bibel in die Hand fiel. «Jetz les i all- 
tag do drinn». Sie zeigt mir, welche 
Stelle sie heute aufgeschlagen hat. 
Es ist der Psalm 139. Sie liest ihn mir 
langsam und bedächtig vor, schaut 
mich an und betont: «Met dena Ge- 
danka wüard miar wohl ums Herz- 
i fühl mi numma allo. I ha eppert, wo 
miar allbig zua-losat».
	        

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