20 Mittwoch, 8. März 2000
Abstimmung Schweiz
Liechtensteiner Volksblatt
Bürgerliche (fast) geschlossen gegen vier
Vorlagen - Justizreform wird akzeptiert
Eidgenössische Abstimmung vom 12. März: Von «Frauenquote» bis «Verkehrshalbierung»
Bundesrat und Parlament wün
schen sich vier «Nein» und ein
«Ja». Die Schweizer Stimmbürge
rinnen und Stimmbürger ent
scheiden am 12. März über die Ju
stizreform, die Behandlungsfrist
für Initiativen, die Frauenquoten,
die Fortpflanzungstechnologie'
und die Verkehrshalbierung. Die
Justizreform ist nicht umstritten,
die anderen Vorlagen werden von
den Bürgerlichen mehrheitlich
abgelehnt. Die Sozialdemokraten
sind für die Frauenquote und die
Verkehrshalbierung.
Adi Lippuner
Einmal mehr sind Herr und Frau
Schweizer am 12. März an die Urne ge
rufen, respektive können ihre Meinung
in schriftlicher Form kündtun. Auf Bun
desebene stehen fünf Geschäfte an. Zu
dem haben mehrere Kantone und Ge
meinden kantonale und kommunale
Abstimmungen auf dieses Datum anbe
raumt.
■ Die erste Vorlage des Bundes, der
Bundesbeschluss über die Reform der
Justiz, ist quer durch die ganze Parteien-
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Blick in ein In-Vitro-Labor. Am Wochenende entscheiden die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über die Initiati
ve für eine menschenwürdige Fortpflanzung.
In der Schweiz wird am Wochenende
über fünf Vorlagen abgestimmt. Die
Justiz reform ist bei allen politischen Par
teien unbestritten. (Bild: adi)
I
landschaft unbestritten. Der National
rat hat die Vorlage mit 165 zu 8 Stim
men angenommen, der Ständerat mit 37
zu 0. Ziel der Reform ist die Verbesse
rung des Rechtsschutzes, die Funktions
fähigkeit des Bundesgerichts zu erhal
ten und die Grundlagen für ein einheit
licheres schweizerisches Prozessrecht
zu schaffen. Erreicht werden sollen die
se Ziele mit nachstehenden Massnah
men: Bei allen Rechtsstreitigkeiten
wird der Zugang zu einem unabhängi
gen Gericht garantiert. Das gilt auch für
Fälle, die heute noch von Verwaltungs
gerichtsbehörden abschliessend beur
teilt werden. Um das Bundesgericht zu
entlasten, werden für nahezu alle
Rechtsfälle, die vor das Bundesgericht
gebracht werden können, richterliche
Vorinstanzen geschaffen. Der Bund er
hält die Kompetenz, für die ganze
Schweiz ein einheitliches Zivil- und
Strafprozessrecht zu schaffen.
Heute gehen in der kleinräumigen
Schweiz 27 Zivilprozessordnungen und
29 Strafprozessordnungen. Gleichzeitig
sind zahlreiche punktuelle Vorschriften
und ungeschriebene Regeln zu beach
ten. Die Rechtslage ist unübersichtlich
und nach Ansicht des Bundesrates nicht
mehr zeitgemäss. Selbst für Anwälte sei
es mitunter riskant, in einem anderen
Kanton zu prozessieren. Die Vielfalt
der kantonalen Strafprozessordnungen
behindere zunehmend auch eine wirk
same Verbrechensbekämpfung.
Nur SVP mit Ja-Parole
Die Volksinitiative zur Beschleuni
gung der direkten Demokratie wird
einzig von der SVP unterstützt. An der
Delegiertenversammlung vom 29, Janu
ar in Wil wurde auf schweizerischer
Ebene die Ja-Parole beschlossen. Der
Nationalrat hat die Initiative mit 162 zu
29 Stimmen abgelehnt, der Ständerat
sogar mit 42 zu 0 Stimmen.
Die Initiative will eine radikale Frist
verkürzung auf zwölf Monate. Wenn
das Parlament einen Gegenvorschlag
wünscht, soll diese knappe Frist auf
höchstens ein Jahr verlängert werden
können, jedoch nur mit Zustimmung
des Initiativkomitees. Unter dem Titel
«Zeitdruck statt Sorgfalt» ist in den Ab
stimmungsunterlagen zu lesen: «Die
Anliegen von Initiativkomitees werden
und unserem Land ernst genommen
und sorgfältig geprüft. Damit die Vor
schläge eine Erfolgschance haben, müs
sen auch alternative diskutiert werden,
unter Zeitdruck, den die vorliegende
Initiative mit ihrer kurzen Frist schafft,
wäre eine angemessene Behandlung
kaum möglich.»
Für Bundesrat und Parlament ist das
Initiativrecht zu wichtig, als dass man
Volksbegehren «im Eiltempo» erledi
gen könnte. Die Initiative wird vom
Bundesrat als «kontraproduktiv» be
zeichnet. Sie erweise der Sache der De
mokratie, auf die sie sich im Titel beru
fe, einen schlechten Dienst.
Sozialdemokraten dafür
Der Grundsatz, dass Frauen und
Männer, wie seit 1981 in der Verfassung
verankert, gleich gestellt sind, wird in
der Schweiz als wichtig erachtet. Ein
Blick auf die zahlenmässige Vertretung
der Frauen in den Bundesbehörden
zeigt aber, dqss d,er Frauenanteil immer
noch weit unter 50 Prozent liegt. Seit
(Bild: Keystone)
liehen Parteien CVP. FDP und SVP ha
ben die Nein-, die Sozialdemokraten
die Ja-Parole beschlossen.
Medizinische Unterstützung
einschränken
Die Initiative für menschenwürdige
Fortpflanzung will nicht nur Missbräu
che verhindern, sie will absolute Verbo
te in der Verfassung verankern. So soll
die Befruchtung ausserhalb des Kör
pers der Frau und die Verwendung von
Samenzellen Dritter verboten werden.
Zulässig bliebe nur die künstliche Bc-
wünschte Diskussion auslösen. Der
Bundesrat bezeichnet die Initiative
als Rückschritt. Die Fortpflanzungsme
dizin und die Gentechnologie sind seit
1992 verfassungsrechtlich geregelt. Das
Gesetz über die Fortpflanzungsmedi
zin von 1998 unterstelle die ärztliche
Fortpflanzungshilfe zusätzlich einer
Bewilligungspflicht und sehe eine stän
dige Aufsicht über die Ärzte vor, wel
che auf dem Gebiet der Fortpflan
zungsmedizin praktizieren.
Die Kehrsefte der Mobilität
Die Verkehrshalbierungs-Initiative
will die negativen Auswirkungen der
Mobilität eindämmen. Mit einer 1996
eingereichten Initiative wird verlangt,
dass der motorisierte Strassenverkehr
innerhalb von zehn Jahren halbiert
wird. Sie lässt jedoch offen, mit wel
chen Mitteln das Ziel erreicht werden
soll. Das Parlament hat eine Frist von
drei Jahren, um die.nötigen Gesetze zu
erlassen.
Das Initiativkomitee will ein Opti
mum von Mobilität und Lebensqua
lität. Mit intelligenten Mitfahrkonzep
ten und «Autoteile» soll rund ein Drit
tel des heutigen Verkehrs von der
Strasse gebracht werden. Den Rest hät
ten Bus- und Bahnverbindungen, inno
vative Leichtmobile und Velos zu be
sorgen. So würden die Lebensräume
von der Hälfte des motorisierten Ver
kehrs entlastet, nach Ansicht der Initi-
anten gäbe es mehr Sicherheit, mehr
Gesundheit und auch mehr Arbeit für
alle. letztere Aussage wird so begrün
det: «Wird ein Franken in den öffentli
chen Verkehr investiert, so bringt
das im Vergleich zum Strassenverkehr
doppelt so viele Arbeitsplätze: Im
Die
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in Kurze
Bundesbeschluss über die Reform der
i Justiz: Mit der Justizreform wollen
Bundesrat und Parlament den Rechts
schutz verbessern, .das Bundesgericht
: entlasten und funktionsfähig erhalten
sowie das ZiviK'ünd Strafprozessrecht
. vereinheitlichen. . Auf umstrittene
Neuerungen, wie' zum Beispiel eine
Erschwerung, des „ Zugangs zum
Bundesgericht, wurde verzichtet.
Volksinitiative«für Beschleunigung
: der direkten Demokratie (Behand
lung für Volksinitiativen in Form eines
ausgearbeiteten Entwurfs)»: Die «Be-
schleunigungsinitigtivc» verlangt, dass
über ausformuliejrte Volksinitiativen
. spätestens zwölf Mpnate nach ihrer, Ein
reichung abgestimmt wird. Bundesrat
und Parlament lehnen die Initiative ab,
denn sie haben von sich aus die Behand-
; lungsfrist für Initiativen stark verkürzt.
Eine weitere massive Verkürzung würde
den Meinungsbildungsprozess, der für
der Einführung des Frauenstimmrechts
im Jahre 1971 nimmt der Anteil zwar in
kleinen Schritten zu, ist aber nach An
sicht der Sozialdemokraten immer
noch zu klein. Ende 1999 lag der Frau
enanteil im Nationalrat bei 23,5 Pro
zent, im Ständerat bei 19,6 Prozent. Im
Bundesrat sind zwei Frauen vertreten
und eine Frau wurde zur Bundeskanz
lerin gewählt. Die Initiative will,dass im
Nationalrat die Differenz zwischen den
in einem Kanton gewählten Männern
und Frauen nicht grösser als eins sein
darf. Im Ständerat müssten Kantone
mit zwei Sitzen je eine Frau und einen
Mann entsenden und im Bundesrat
müssten mindestens drei der sieben
Mitglieder Frauen sein. Beim Bundes
gericht wird ein Frauenanteil von 40
Prozent verlangt. Für die Bundesver
waltung sieht die Initiative keine Quo
ten vor, das Gesetz müsse aber für eine
angemessene Vertretung der Frauen
sorgen.
Der Nationalrat hat die Initiative mit
112 zu 48 Stimmen abgelehnt, der Stän
derat mit 36 zu 4 Stimmen. Die bürger
eine Demokratie entscheidend ist, we
sentlichbeeinträchtigen.
Volksinjtiative «fiir eine gerechte Vertre
tung der flauen in den Bundesbehör
den»: Die «Initiative 3. März» fordert ei-
; ne angemessene Vertretung der Frauen
in den Bundesbehörden, indem sie na
mentlich für die eidgenössischen Räte,
den Bundesrat und das Bundesgericht
Quoten festlegt. Bundesrat und Parla
ment lehnen die Initiative ab, obwohl sie
grundsätzlich das Anliegen der Initian-
tinnen teilen. Das Volksbegehren sieht'
zu starre Regelungen vor und schränkt
die Wahlfreiheit der Stimmberechtigten
sowie die Chancengleichheit der Kandi
dierenden allzu sehr ein.
Volksinitiative «zum Schutz des Men
schen vor Manipulation in der Fort
pflanzungstechnologie (Initiative für
menschenwürdige Fortpflanzung)»:
Die Volksinitiative «für menschenwür
dige Fortpflanzung» will die Beftuch-
fruchtung mit Samenzellen des Part
ners und das instrumentelle Einbringen
von Samen- und Eizellen in die Frau.
Der Nationalrat hat die Initiative mit
132 zu 18 Stimmen abgelehnt, der Stän
derat mit 42 zu 0 Stimmen. Begründet
wird diese Ablehnung von Bundesrat
und Parlament mit den verlangten Ver
boten, welche als unverhältnismässig
bezeichnet werden. Missbräuche könne
man mit dem neuen Gesetz wirksam
bekämpfen. Die Initiative beschränke
die medizinische Unterstützung bei der
Erfüllung des Kinderwunsches in un
zulässiger Weise.
Demgegenüber betont das Initiativ
komitee, dass ein Kind nicht zur produ
zierbaren Ware degradiert werden dür
fe. «Mit Fremdsamen Gezeugte erfah
ren meist ihre wahre Herkunft nicht,
denn die Auskunftspflicht kann nicht
durchgesetzt werden.» Bei einem Ja zur
Initiative würde das noch nicht in Kraft
gesetzte Fortpflanzungsmedizingesetz
entsprechend nachgebessert. Zudem
würde, so die Ansicht des Initiativko
mitees, die Annahme eine weltweit er
tung ausserhalb des Körpers der Frau i
und die Verwendung von Keimzellen,i
Dritter zur künstlichen Befruchtung :
verbieten. Bundesrat und Parlament
lehnen die Initiative ab: Sie verhindert
mit unverhältnismiissigen Verboten
Techniken, die die Medizin bereits
jahrzehntelang praktiziert, um kinder- ;
losen Paaren zu helfen. j
Volksinitiative «für die Halbierung des
motorisierten Strassenverkehrs * zur
Erhaltung und Verbesserung von Le-
bensräuinen (Verkehrshalbierungs-In
itiative)»: Die «Verkehrshalbierungs-
Initiative» verlangt, dass der motori
sierte Verkehr auf unseren Strassen in«h
nerhalb von zehn Jahren auf die Hälf
te reduziert wird. Bundesrat und Par
lament lehnen sie ab: Sie würde die in-:?
dividuelle Bewegungsfreiheit massiv
einschränken und hätte für Wirtschaft,:
und Beschäftigung schwerwiegende «
Konsequenzen. ' <
Wagon- und Schienenbau, bei Bus und
Bahn entstehen so zehntausende neuer
Jobs.» Der Bundesrat ortet Schwierig
keiten bei der praktischen Umsetzung
der Initiative. «Es wäre kaum möglich,
die erforderlichen Zwangsmassnah
men gerecht und sozialverträglich
durchzuführen.» Unter dem Stichwort
«Nachteile für die Wirtschaft» wird
darauf hingewiesen, dass ein gut funk
tionierendes Verkehrssystem für die
Wirtschaft unerlässlich ist. Eine Studie
belege, die Halbierung des Strassenver
kehrs binnen zehn Jahren hätte für die
Unternehmen und die Arbeitnehmen
den gravierende Konsequenzen.
Im Gegensatz zur Behauptung des In
itiativkomitees wären negative Auswir
kungen auf das Wirtschaftswachstum
und die Beschäftigungslage zu
erwarten. Der Nationalrat hat die
Initiative mit 110 zu 30 Stimmen abge
lehnt, der Ständerat mit 42 zu 0 Stim
men. Die CVP, die FDP und die SVP ha
ben an ihren Parteitagen die Nein-Paro
le beschlossen. Die Sozialdemokraten
empfehlen, ein Ja in die Urne zu legen.