Kat. Nr. 38
PAOLO PAGANI (1661-1716)
«DER HEILIGE HIERONYMUS» (um 1685/90)
Leinwand; 117,6 X 149,3 cm
Inv. Nr. G3
Erworben: 1812 durch Fürst Johannes I.
Im Schutze einer Höhle sitzt Hieronymus auf felsigem Boden,
den kräftigen Oberkörper und das markante, von wildem Kopf-
und Barthaar umwucherte Haupt nach vorne, zur rechten Seite
des Bildes geneigt, um mit bohrendem Blick den Worten eines
Buches zu folgen, das, gestützt auf einen menschlichen Schädel,
weit geöffnet zu seinen Füßen liegt. Die linke Hand greift, einer
Geste des Nachdenkens gleich, in den Bart. Die rechte aber hält.
weit ausholenden Armes, einen Stein, der zur Kasteiung gegen
die Brust geschlagen wird. Rechter Arm und rechtes Bein, das
zum Oberkörper hin angewinkelt ist, formen eine das Bild in sei-
ner Gesamtheit beherrschende, kraftvoll dynamische Diago-
nale. Hinter dem Rücken des Heiligen schaut aus dem Dunkel
des Höhlengrundes der Kopf eines Löwen hervor. Hieronymus
ist nackt. Nur ein großes, braunes Tuch ist um seinen Unterleib
geschlagen. Helles, doch dunkle Schatten werfendes Licht läßt
den unbekleideten, muskulösen Körper des Mannes eindrucks-
voll aufleuchten. Konzentriert und dicht, auf das Wesentliche
beschränkt, schildert der Maler den von heftiger Seelenqual
gepeinigten und leidvoll um eine gottgeweihte Existenz ringen-
den Heiligen.
Von Reue um seinen den weltlichen Genüssen zugeneigten
Lebenswandel ergriffen, zog sich der spätere Kirchenvater
Hieronymus zwischen 375 und 380 als Einsiedler in die Wüste
von Chalcis bei Antiochia zurück. In einem seiner «asketi-
schen» Briefe schreibt er: «Als ich in der Wüste weilte, ... da
schweiften meine Gedanken oft hin zu den Vergnügungsstätten
Roms... Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich oft Tag und
Nacht ohne Unterbrechung schreiend zubrachte, daß ich nicht
mehr aufhörte, meine Brust zu schlagen... Wo ich eine Tal-
schlucht, einen rauhen Berg, ein zackiges Felsgebilde sah, da
ließ ich mich nieder zum Gebete, da machte ich daraus einen
Kerker für mein sündiges Fleisch»'. Den eigentlichen Anlaß zur
Reue aber bildete ein Traum, den Hieronymus in Jerusalem
hatte, wohin er sich im Jahre 373 «gleichsam um des Himmel-
reiches willen», doch ohne Verzicht auf seine «heidnische»
Bibliothek, begab und in einem weiteren Brief notierte: Vor den
höchsten Richterstuhl geschleppt, wird Hieronymus, der sich
auf die Frage, was er sei, als «Christ» bezeichnet, von Gott als
«Ciceronianer» beschimpft und ausgepeitscht. Schlimmer als
die Hiebe schmerzen ihn die Gewissensbisse. Schließlich
schwört er bei Gottes Namen: «Herr, wenn ich je wieder weltli-
che Handschriften besitze oder aus ihnen lese, dann will ich
Dich verleugnet haben»?
Als zurückgezogen in der Wildnis lebenden Asketen und Ein-
siedler zeigt das liechtensteinische Gemälde den Heiligen
Hieronymus, in Bußübungen und das Studium der heiligen
Schriften vertieft, die er gegen die heidnischen eintauschte. Wie
schon in Morettos Gemälde gleichen Themas (vgl. Kat. Nr. 17)
hält der das Buch stützende Schädel auch hier die Erinnerung an
die ständige Präsenz des Todes wach, vor dem alles Irdische
eitel ist. Anders hingegen als bei Moretto schaut Hieronymus
nicht den Trost spendenden Christus, der zwar am Kreuz ster-
ben mußte, doch gleichwohl über den Tod triumphierte. Gänz-
lich allein und auf sich selbst zurückgeworfen ist der Heilige,
Lediglich der Löwe teilt mit ihm die Einsamkeit, in Treue erge-
Jen, seit Hieronymus, gemäß der Legende, furchtlos einen
Dorn aus seiner blutenden Tatze zog.
Die Darstellung des Heiligen Hieronymus blickt in der italieni-
schen Malerei auf eine lange, bereits im Mittelalter wurzelnde
Tradition zurück. Der insbesondere in Humanistenkreisen
bevorzugten Charakterisierung des Heiligen als Kirchenvater
und Gelehrter gesellt sich, mit Ursprung in der Toskana, ab etwa
1400 ein zweiter Typus hinzu, der vor allem beim Klerus und bei
verschiedenen Orden zunehmend an Bedeutung gewinnt:
Hieronymus als Büßer in der Wüste?, Als solcher dominiert der
Heilige auch die venezianische Malerei des 17. Jahrhunderts, in
deren Kontext Paganis Gemälde entstand.
1812 erworben, wurde das Bild in den liechtensteinischen
Galeriekatalogen von 1873, 1885 und 1931 Jusepe de Ribera
zugeschrieben. 1929 wies Voss es auf der Grundlage eines Ver-
gleiches mit der Heiligen Magdalena in der Dresdner Gemälde-
galerie der Hand Paolo Paganis zu. Beiden Werken ist ein von
dramatischem Hell-Dunkel beherrschter, caravaggesker Realis-
mus eigen. Körper und Haltung der Heiligen, jeweils eng vom
Bildrand umgrenzt, weisen signifikante Übereinstimmungen
auf. Nicht zuletzt deutet auch der malerische und kraftvoll jedes
Detail erfassende, dennoch bisweilen ganz weich die Körper-
Konturen auflösende Pinselstrich in beiden Gemälden überzeu-
gend auf einen gemeinsamen Urheber hin. Zur Rekonstituierung
des Oeuvres von Paolo Pagani diente Voss seinerzeit die durch
Literatur und Reproduktionsgrafik in ihrer Zuschreibung ge-
sicherte Dresdner Magdalena als Ausgangspunkt. Der ihr
chronologisch und kompositorisch folgende liechtensteinische
Hieronymus wurde, mit Ausnahme Arslans, auch von Morassi,
Kurz und Vecchi als Werk Paganis akzeptiert. Auch Schleier hat
dem jüngst noch einmal mündlich beigepflichtet. Silva Burri
datiert das Gemälde in die Jahre zwischen 1685 und 1690.
Paolo Pagani, 1661 in Valsolda am Lago di Lugano geboren,
arbeitete vorrangig in Venedig und Mailand. 1692 folgte er
einem Auftrag des Fürstbischofs Karl von Liechtenstein nach
Kremsier in Mähren, um dort einen Saal der Residenz mit Fres-
ken auszumalen (1752 durch Feuer zerstört). Mit seinen kraft-
voll und dynamisch gestalteten menschlichen Körpern belebte
der Lombarde die venezianische Malerei des späten 17. und
frühen 18. Jahrhunderts. Insbesondere das Werk Gian Battista
Piazzettas zeigt sich von ihm beeinflußt. Pagani starb 1716 in
Mailand. UW
Bibliothek der Kirchenväter, Des heiligen Kirchenvater Eusebius Hieronymus
ausgewählte Schriften aus dem Lateinischen übersetzt von Ludwig Schade.
3 Bde. Kempten-München 1914-1937, Bd. ]I., I. Briefband. S. 68-69.
Siehe Anm, 1, S. 100-101.
Christiane Wiebel, Askese und Endlichkeitsdemut in der italienischen
Renaissance, Weinheim 1988, SS. 5, 20 und 65—66.
Literatur: Seite