Kat. Nr. 26
GUIDO RENI (1575-1642)
«LESENDER JOHANNES EVANGELISTA»
Leinwand: 52,5 X 62,7 cm
Inv. Nr. G 45
Erworben: vermutlich vor 1712 durch Fürst Johann Adam Andreas I.
Diese späte Komposition Guido Renis ist ein intimes, gleichsam
kammertonartiges Porträt des jungen San Giovanni Evangelista.
Obschon das Bild ein religiöses Thema zeigt, unterscheidet es
sich von den eher offiziellen Darstellungen vergleichbarer
Sujets; die sich schon zu Renis Lebzeiten im Kreis seiner
Bewunderer größter Wertschätzung erfreuten.
Das Eigentümliche dieser Johannesfigur tritt im Vergleich mit
der Bildtradition deutlich hervor. Das Bild des Evangelisten
Johannes gehört als Autorenporträt, das einen der Schreiber der
vier Evangelien zeigt, zu den ältesten Darstellungstypen der
europäischen Kunst. Schon aus dem frühen Mittelalter, von der
Spätantike übernommen, sind in der Buchmalerei die ersten
Johannesbilder überliefert. Der Lieblingsapostel Christi ist dann
in unzähligen Kreuzigungsdarstellungen der frühen Tafelmale-
rei präsent und bleibt wegen der Vision, die ihm auf Patmos
zuteil wurde, eine Mittlerfigur auch in der Renaissance, wo er
oftmals im Typus des jugendlichen Mannes erscheint.
Als stattlichen Jüngling mit schulterlangem, lockigem Haar,
dem leicht geöffneten Untergewand und einem mantelähnlichen
Umhang hatte ihn Reni innerhalb einer Serie von Evangelisten-
bildern schon einmal dargestellt (heute: Greenville, South Caro-
lina, Bob Jones University) und war darin ganz Raffaels Beispiel
der Johannesfigur auf dem Cäcilienbild in Bologna gefolgt, das
er in allen Details kannte, da er es kopiert hatte. Doch in deutli-
cher Differenz zur früheren Fassung fand nun seine neue und
augenscheinlich moderne Interpretation Gestalt.
Durch den Wechsel des Formats zum Querrechteck gewinnt
Reni eine Verdichtung der räumlichen Situation. Die vielfachen
Randüberschneidungen begrenzen nun auf virtuose Weise den
äußerst engen Raum zwischen Figur und vorderer Bildebene.
Ganz nahe wird der Betrachter «hinzugebeten». Im kontempla-
tiven Schauen hat er teil an der intimen Spannung des Bildes,
die in Konzentration und der Ruhe des Lesens aufgeht. Die-
ses Erlebnis basiert auf einer ikonographischen Umwandlung
des Themas.
Aus dem überlieferten Porträt eines Schreibers formulierte Reni
sine Genreszene, aus der Rolle eines Verkündigers wurde das
Bild eines Lesenden. Doch der versammelte Ernst und die große
geistige Kraft dieser jugendlichen Figur, die auch in dem klei-
nen Bildausschnitt sehr körperlich wirkt, bringen die ursprüng-
liche Aufgabe in Erinnerung. Denn als Jünger Christi, neutesta-
mentlicher Prophet und Schreiber des Heiligen Buches ist
Johannes ein Kronzeuge der Religion. Die traditionelle Span-
nung des Themas ist auch hier präsent. Der jugendliche San
Giovanni zeigt sich ernsthaft, konzentriert aufmerksam und
zugleich versunken. Die diaphane Farbgebung des perlmutt
glänzenden Gesichts läßt ein Bild luzider Adoleszenz erstehen.
Die lebensvolle Weichheit von Gesichtszügen und Haaren und
die gerötete Wange charakterisieren eindrucksvoll sinnlich die
Srscheinung eines Jünglings. Dieser Johannes ist eine Figur des
Aufbruchs und gleichzeitig durchdrungen von bedeutungsvoller
Schwere, eine Initiationsfigur, diesseitig und zugleich schon
erfüllt von spiritueller, «jenseitiger» Bedeutung. Die große Auf-
zabe des Evangelisten ist ganz in das Innenleben der Gestalt
gelegt. Es fehlt jedes erläuternde oder illustrierende Beiwerk.
Statt dessen umfängt ein monochrom dunkler Hintergrund den
Lesenden und markiert höchst unbestimmt den Raum.
Das Offene des Malwerks. entspricht dem transitorischen
Moment der Jugendlichkeit. So wirkt denn auch die äußerst
Jünn aufgetragene Malschicht der Mantelpartie, die nur sum-
marisch und schnell angelegt ist, offen und nicht endgültig. Fast
im Gegensatz hierzu steht die geschlossene und vollendete Par-
je des Gesichts.
Der Eindruck des Unvollendeten drängte sich schon den Zeit-
zenossen in Ansicht der späten Werke Renis auf. Malvasia, sein
'rühester Biograph, bezeichnete die Bilder der «ultima ma-
ılera», des «letzten», also späten Stils als «solo abbozzato» und
nißverstand damit wohl das von Reni tätsächlich bewußt ein-
zegangene Wagnis einer Auflösung der Gegenstandsillusion.
Malweise und Kolorit dienen jetzt nicht länger allein dazu, den
gemalten Gegenstand zu bezeichnen, sondern die sichtbar und
auch «naß in naß» schnell gesetzten Pinselstriche erreichen
zugleich ein autonomes ästhetisches Eigenleben. Hier treibt der
Künstler voran auf einem Grenzgang, der dem Spätwerk von
Malern vorbehalten ist und eine Reflexion über die Kunst und
ıhr Abbildverhältnis einschließt.
Gerne mag man sich für das liechtensteinische Bild vorstellen,
daß es zu jenen gehörte, von denen Malvasia erzählt, daß sie,
teilweise noch unvollendet, im Moment des Todes, 1642, den
Künstler in seinem Atelier umgaben und für ihn gültig waren,
nicht als offizielles Vermächtnis, sondern als Dokument eines
äußersten künstlerischen Progresses, der vielleicht auch nur
ohne Auftraggeber und Publikum zu erreichen war. M.H.
Ausstellung und Literatur: Seite 153