Kat. Nr. 18
ALESSANDRO BONVICINO
gen. IL MORETTO (um 1492/95 —1554)
«MARIA MIT DEM KIND UND DEM
JOHANNESKNABEN» (um 1550)
Holz; 37,8 X 50,8 cm
Inv. Nr. G 879
Erworben: 1895 durch Fürst Johannes II.
Die Reinigung von Morettos «Maria mit dem Kind und dem
Johannesknaben» brachte 1992 unter den beiden entfernten
großflächigen Übermalungen des 19. Jahrhunderts in der Him-
melszone und am unteren Bildrand zwei Inschriftenträger zum
Vorschein, die den Gesamtcharakter der Komposition stark
beeinflussen.
Vor einer giorgionesken Stadtkulisse begegnen sich in abendli-
cher Stimmung die Madonna mit dem Kind und der Johannes-
knabe. Die Figuren sind im Vordergrund auf dem mit Blümchen
übersäten Rasenstück wie auf einem kostbaren Teppich plaziert.
Johannes ist zu Maria und Christus getreten und hält ihnen sein
rankenumkränztes Kreuz aus feinem Rohr und eine Marmorta-
fel entgegen. Eine Ruinenarchitektur hinterfängt die sitzende
Madonna mit dem Kind thronlehnenartig. Diese eigene kompo-
sitionelle Einheit bindet erst die Figur des Johannes auf viel-
fältige Weise in das Gefüge des Bildes. Wie auf ungezählten
Darstellungen seit der Renaissance gehört zu Johannes das
Fellgewand und das Stabkreuz, als Hinweis auf Christi Passion,
der die eigene vorläuferhaft voranging'. Johannes’ Zeugnis vom
Opfertod und der Gottessohnschaft Christi erfährt nun auf
Morettos Tafel die besondere Zuspitzung auf den Triumph des
Erlösers in der Wiederauferstehung. Denn das Kreuz, das Johan-
nes dem Christuskind entgegenhält, ist von blühenden Ranken
umschlungen, die dort, wo sich «Stamm» und «Balken» durch-
dringen, einen Kranz bilden. Als Siegerkranz kehrt er am Him-
mel in der Aureole wieder, von einem Cartello umschlungen,
dessen ausgekratzte Schriftzüge heute nicht mehr zu entziffern
sind. In Richtung dieses himmlischen Triumphes hält Johannes
das Kreuz und die Inschrifttafel. Christus hat den linken Arm
um den zarten Kreuzesstamm gelegt und erscheint so im Schoß
der Mutter als bereits Auferstandener, als sieghafter Erlöser mit
dem schon überwundenen Kreuz im Arm. Von diesem Triumph
kündet auch die Inschrift der Tafel, auf die Johannes mit ausge-
strecktem Finger weist: «HIS ARMIS VICTOR DE ORBE TRIUM-
PHABIS»?.: Mariens Kopf wendet sich dem Kind und auch der
Schrifttafel zu. Als kompositionelles Widerlager liegt zu Füßen
der Gruppe auf dem Rasen, wie ein antikes Relikt, eine weitere
Schrifttafel. Sie kann nur vom Betrachter gelesen werden und
wirkt als Motto der Komposition. Der gemeißelte Marienhym-
aus «O QUAM TE MEMOREM VIRGO NAMQZ HAVD TIBI PARTUS
/ MORTALIS GREMIO ES QUEM APLECTERIS O0 DEA CERTE»*
erläutert, ähnlich der Marmortafel des Johannes, das, was male-
risch ohnehin offenbar ist. Das Buch in Mariens Rechter ist nun
mit jenem der Verkündigungsszene zu identifizieren.
Die Zuschreibung des Gemäldes an Moretto ist wegen seiner
Kleinteiligkeit und dem leicht unruhigen Duktus, insbesondere
der Gewandpartie, in Frage gestellt worden. Boselli spricht die
Tafel 1946 Moretto ab, um sie dem Oeuvre Agostino Galeazzis
zuzuweisen. Die nachfolgenden Autoren teilen diese extreme
Position nicht und belassen sie, wie Bossaglia 1963, trotz Zwei-
felns dem Moretto. So auch Begni Redona, der sie in seinem
Deuvreverzeichnis für eine höchst qualitätvolle «derivazione»
eines eigenhändigen Prototypen hält. Doch nicht allein Qua-
litätsmerkmale und sichtbare Unterzeichnung, deren feinteili-
ger, oft absetzender Duktus den bekannten Federzeichnungen
Morettos nicht unähnlich ist‘, sowie das Pentimento des Chri-
stuskopfes schließen die Werkstatt oder einen unbekannten
Brescianer Kleinmeister in der Moretto-Nachfolge als Urheber
aus. Vor allem der Kompositionsaufbau steht den Zweifeln an
Morettos Hand entgegen. In grundsätzlicher Entsprechung zur
Hieronymustafel (Kat. Nr. 17), auf der die dunkle Fläche links
ebenfalls den Blick ins Unendliche verriegelt, fällt das Boden-
niveau des Vordergrundrasens zum Mittelgrund hin ab. Die
Stadt liegt ebenfalls weiter entfernt und nochmals tiefer. Räum-
iche Kontinuität wird auch hier durch den Wegverlauf simu-
iert. Vielen Kompositionen Morettos ist diese charakteristische
Entwicklung der Tiefenräumlichkeit eigen. Auch das leicht
-edundant wirkende Motiv der Schrifttafeln, das identisch auf
nehreren Bildern erscheint, ist allein für Moretto typisch,
ebenso die Aureole am sich öffnenden Himmel. Ein Cartello,
ıinter einen Kranz gespannt, findet sich auch bei dem Prophe-
‚enpaar im Escorial (San Lorenzo), und die Architekturformen
Kehren, wie auch die symbolische Schafherde, auf dem «Ecce
Homo» (Neapel, Museo Nazionale di Capodimonte) wieder.
Ausschlaggebend ist aber die frappierende Übereinstimmung
mit vielen Figurendarstellungen Morettos, in allen Merkmalen
von Sitz- und Gewandmotiv (vgl. «Thronende Madonna in Wol-
ken», Pala in der Pfarrkirche von Calvisano/Brescia), Haartracht
ınd Gesichtsbildung, Ohr- und Handformen, wobei in der «Hei-
.igen Familie mit Johannesknaben» (Mailand, Museo Poldi Pez-
zoli) die Kinderköpfe «seitenverkehrt» erscheinen. Die Litera-
ur datiert die Tafel, mit Ausnahme Gombosis, überwiegend in
das Spätwerk Morettos. Begni Redonas Vorschlag, um 1550 als
Entstehungszeit anzunehmen, wird auch durch einige der oben
genannten Vergleiche bestätigt. M.H
Zur Ikonographie und Passionssymbolik, sowie zur textlichen Grundlage der
Johannesknabendarstellungen siehe Kat. Nr. 7, insbesondere Anm. 1 und
Kat. Nr. 13.
«Mit diesen Waffen, Siegreicher, wirst Du über den Erdkreis triumphieren».
«Oh, wie soll ich Dich preisen, Jungfrau, denn Du hast keine sterbliche Leibes
rucht aus Deinem Schoß hervorgebracht, die Du, oh Göttin, sicher umfaßt»
(Übersetzung: H. Heiser, G. Pohl).
Hier sei nur beispielhaft das «Emmausmahl» (Kopenhagen, Statens Museum
for Kunst) angeführt
Ausstellungen und Literatur: Seite 151